Ob die kurze Vorschlagsnote vor oder nach dem Takt notiert wurde, sagt also nicht immer aus, ob die kurze Vorschlagsnote auf, oder vor dem Schlag zu spielen ist.
Das ist ein krasses Fehlurteil - warum sollte dein Namensvetter da so unterschiedlich notieren, etwa aus grafischen Gründen? Angenommen, jede Vorschlagsnote bei Chopin müsste vor der Zählzeit gespielt werden, dann wären deutlich differierende Notationen (mal vor, mal nach dem Taktstrich (sofern es um die 1. Zählzeit geht)) völlig sinnloser Quatsch...
Und bitte: wie egal wer irgendwas ausführt, beantwortet nicht die Frage, warum und wie der Komponist seine Notation gewählt hat und was er damit meint - es beantwortet lediglich die bestenfalls aufführungsgeschichtliche Frage, wie X oder Y dies oder das ausführen (und ob X oder Y da Gründe haben oder nicht, diese mitteilen oder nicht, müsste man nachgucken - meist erfährt man da nicht viel) - - da du mich fragst: ich spiele Verzierungen oft, nicht immer, so, wie mir´s gerade passt; und spaßeshalber, weil´s nett klingt, spiele ich manche Praller und Mordente bei Bach und Scarlatti auch völlig falsch vor der Zählzeit, außerdem gefällt mir oft genug bei Trillern, die mit der Nebennote beginnen müssen, genau das nicht und ich mach´s eben anders. Aber das sagt nichts darüber, wie sie korrekt auszuführen wären!
Allerdings aber weiß ich, was mus.wiss. dazu vorliegt (falls was vorliegt, z.B. über Verzierungen in Wagners Albumblättern gibt´s nüscht) und ohne das zu durchdenken entscheide ich nichts.
Zu Chopins Verzierungen gibt es umfangreiche Literatur. Das ist nun deshalb von Interesse, weil oft bis in manchen Stücken sogar meistens nicht so gespielt wird, wie Chopin das haben wollte. Das überraschende und für uns, weil wir´s vom hören notgedrungen anders gewohnt sind, verblüffende ist die Marotte von Chopin, dass nahezu alle klein gestochenen Auszierungen*)
auf der Zählzeit gespielt werden müssen, dass also die Hauptnote verspätet dran ist. Ab und zu wich Chopin von
seiner "Verzierungsregel" ab,
indem er es dann anders als sonst notierte! Diesen Fall findest du im 1. Scherzo (welches du genau zu kennen behauptest) ...grundlos hab´ ich das Notenbeispiel mit den Vorschlägen mal vor, mal nach dem Taktstrich nicht gezeigt...
Übrigens gibt es einen ulkigen Fall, wo die meisten ein falsches Tempo wählen, aber die Verzierung korrekt a la Chopin ausführen - das ist ein ganz berühmtes und oft gespieltes Stück von Chopin (wer sich auskennt, weiß das sofort)
Nun zum Tipp mit den arpeggierten Akkorden: Chopin verwendet da primär zwei**) unterschiedliche Notationen: 1. die Schlangenlinie vor dem notierten Akkord, 2. klein gestochen voraus die einzelnen Töne zur Melodienote hin (mal mit, mal ohne Haltebögen) - im 1. Fall muss eindeutig die Melodienote auf die Zählzeit fallen, im 2. Fall nicht. Natürlich gibt es dann auch bei beiden Varianten noch zusätzliche Auszierungen (Vorschläge, Trillerchen usw) ((steht ein Vorschlag vor der Melodienote eines arpegg. Akkords, muss dieser dann nach dem hochrollen auf die Zählzeit fallen)
Aber nicht genug damit: man muss auch noch differenzieren,
was da gerade vorliegt (und was für Tempi gefordert sind) - um das abzukürzen: im Es-Dur Nocturne sind wir nicht in einer schnellen und womöglich gar akkordischen Etüde, sondern in einer sehr cantabile zu spielenden Kantilene a la Belcanto. Hier muss man sich an der
Gesangspraxis orientieren. Oft genug imitieren solche Verzierungen der Belcanto-Linie das hochziehen von Tönen bei Intervallsprüngen, und da hat kein Sänger zwanghaft den Zielton in voller Pracht exakt auf der Zählzeit - im Gesang sind die Zählzeiten weitaus flexibler (!). Und gerade Chopins spezielle Marotte der Verzierung meist auf der Taktzeit wird dem Belcanto gerecht (da entsteht ein Rubato-Eindruck, obwohl die Begleitung ganz streng im Takt bleiben kann) Korrekt im Sinne des Komponisten wäre es an der gefragten Stelle im Nocturne schon den Vorschlag oder wenigstens die erste klein gestochene Note zusammen mit dem Bass zu spielen.
=> ob man das macht, ob einem das gefällt, ob andere das ganz anders ausführen, ist eine andere Frage, und deren Antworten (Plural) erklären nicht, was Chopins Notation tatsächlich meint. Die Interpretationsgeschichte gibt uns nur Auskunft über verschiedene Interpretationsstile im Lauf der Zeit; bei Chopin geht das los mit den ersten alten Aufnahmen, die sehr frei im Tempo sind (...oh oh...) über Rubinstein mit seinen geraderen Tempi (der anfangs als sachlich kritisiert wurde, uns heute aber eher spätromantisch vorkommt) und weiter über Michelangeli und Pollini bis heute, und erst in der Nachkriegszeit begann die Musikforschung, sich eingehender mit den Chopinschen Verzierungen zu befassen (!!) - immerhin weiß man heute, wie es gespielt sein sollte, was aber (Verzierungen sind ein Schmuck, und wie man Schmuck trägt, ist subjektive Geschmackssache, Mode usw) meiner privaten Ansicht nach keinen strengen Zwang bedeuten muss.
aber es sollte keine freie Entscheidung ohne die Kenntnisnahme und das durchdenken der spezifischen Charakteristika Chopins geben, und dazu gehören heute nun mal die Verzierungen meist auf der Zählzeit.
Und Achtung: Chopins "interne" Verzierungsregeln (oder Marotten) sagen NICHTS über die Verzierungen bei Mendelssohn, Schumann, Liszt aus.
...jetzt hab ich mir ohne meine Bücher und ohne Nähe zu einer ordentlichen Musik-Bibliothek in meiner heiligen Freizeit die Mühe gemacht, zumindest ein paar wenige Fingerzeige zu liefern, und da ich von Natur aus gemein, mordlüstern und diabolisch grausam bin, gönne ich mir eine Bosheit: ich glaube nicht, dass dir
@Frédéric Chopin das alles "nichts Neues" ist, denn sonst wären deine Antworten anders ausgefallen
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*) darunter fallen natürlich nicht solche Stellen wie der Schluss der e-Moll Etüde oder der Beginn der Polonaise-Fantaisie
was schon das Notenbild eindeutig zeigt... das muss hoffentlich nicht extra erklärt werden...
**) primär zwei - tatsächlich gibt es noch ein paar wenige andere, aber das hier soll nicht in einen monströsen Aufsatz ausarten...