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I
Wer die Hymne der Bundesrepublik Deutschland verunglimpft, kann nach §90a StGB zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verknackt werden. Diese Strafandrohung verliert in Pandemie-Zeiten ihre abschreckende Wirkung, vorallem auf Leute wie mich, der ich 1.) notorisch pleite bin, 2.) seit Jahrzehnten in sozialer Isolation lebe, ohne die mein gelegentliches Bad in der Menge gar nicht zu verkraften wäre. Einen Hinweis auf das angeblich schuldmildernde Tagesdatum lasse ich deshalb nicht gelten, zumal der nachfolgende Text aus nachprüfbaren Fakten besteht. Sein Thema: die unserem Vaterland in den Wirren des 19. Jahrhunderts angedichtete „Penishymne“ (taz) und der mit ihr verbundene, bis heute andauernde Streit um die deutsche Liedkultur.
Die Nationalhymne ist ja sowas wie ein Leitmotiv, die akustische Visitenkarte eines Staates: ferner Nachfahre des archaischen Kriegsgebrülls, Begleitmusik für tableaux vivants bei Staatsempfängen, wenn die zerknitterten Gesichter der Politiker wie unter einem Gorgonenblick versteinern, oder bei Sportereignissen, deren Teilnehmer die klangliche Realisierung des Werks wie einst Milli Vanilli mit karpfengleichen Mundbewegungen simulieren.
Die meisten Hymnen sind textlich und musikalisch so inferior, daß sie dem besungenen Staat kaum zur Ehre gereichen – was die betreffenden Staatsgebilde nicht zu stören scheint. Hymne, altgriechisch ὑμήν (=Haut), auf Hymenaios, den griechischen Hochzeitsgott, bezogen, wird im Volksmund auch Jungfernhäutchen genannt... sorry, das war der falsche Wikipedia-Artikel. Die Hymne ist eine dünne, leicht verletzbare Gewebeschicht in der Vaginalöffnung der Nationalstaaten... pardon: eine dünne, von der Gewerbeaufsicht leicht verletzbarer Nationalstaaten geöffnete... Ach, Leute, ich bin einfach kein Systematiker. Ich gehe zum historischen Teil über.
Dem perfiden Albion verdanken wir die Wahnidee nationaler Repräsentanz durch lautes und falsches Singen schlager-artiger Trällermelodien (die auch in der Dub-Version unerträglich sind). Mitte des 18. Jahrhunderts wurde einem eher unterkomplexen englischen Wiegenlied anonymen Ursprungs (¾-Takt, Ambitus: große Sexte) der Text einer nationalen Fürbitte unterlegt: „God save our gracious King/Queen“, ein kollektiver Stoßseufzer, quasi das Streiklied überforderter Security-Kräfte angesichts der permanenten Schutzbedürftigkeit großbritannischer Herrscher*innen. Dieses Problem war auch den Völkern des Habsburgerreiches nicht unvertraut, weshalb sie ihrem Kaiser gleich den innigsten Dauerkontakt mit seiner Schutzgottheit wünschten („Gott erhalte Franz den Kaiser“), zu singen auf die schöne, von Joseph Haydn komponierte, im originalen Tonsatz sehr wehmütig klingende Melodie (einem kroatischen Volkslied entlehnt).
Deutschland, wie immer verspätet, hatte nichts Vergleichbares zu bieten – weder Herrschersubjekte noch Hymnen, nur drei Surrogate: 1.) die „Wacht am Rhein“, mit Rufen wie Donnerhall und der leider unbeachtet gebliebenen Selbstaufforderung, ruhig zu sein, 2.) ein laut „taz“-Redaktion mit „Das Glied der Deutschen“ betitelter, von A.H.Hoffmann von Fallersleben zu Haydns Melodie verfaßter Reimtext, geschrieben auf der penisgleich aus dem Meer ragenden Nordseeinsel Helgoland, 3.) das ausgerechnet auf die Melodie der britischen Königshymne zu singende „Heile, heile Gänsje“, äh – pardon: „Wir winden Dir den Jungfernkranz“, nein: „Heil Dir im Siegerkranz“. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das beste.
Hymnenreif wurde Deutschland erst 1922, in den nachrevolutionären Wirren der Weimarer Republik, mit Haydns Melodie (eine Dauerleihgabe Österreichs) und dem oben erwähnten Helgoländer Freiheitsgedicht als Text. Was Österreich betrifft, so übergehe ich die Turbulenzen der Jahre 1918 bis 1945 und beschränke mich aufs Resultat: die zur Zeit in Umlauf befindliche Bundeshymne „Land der Berge, Land am Strome“, seit 2012 mit der rhythmisch holprigen, dafür aber durchgegenderten Zeile „Heimat großer Töchter und Söhne“, Text: Paula Preradović, Melodie: der ursprünglich als authentisch angesehene Schlußgesang aus W. A. Mozarts "Freimaurerkantate": das berühmte „Kettenlied“, wohl von einem Logen-Troll (Johann Anton Holzer?) in die Kantate reingeschmuggelt. Dafür gibt’s dann leider nur KV623, Anh. (KV623a)
Wem das nicht paßt, der geht nach drüben. Während seines mehrjährigen Deutschland-Aufenthalts ließ sich A.Hilter gern die alte Kaiserhymne vorspielen, oft in Kombination mit einem SA-Kampflied. Ältere Chronisten können davon noch auf erschütternde Weise Zeugnis ablegen, wenn sie nach dem Grölen der letzten Hymnentakte („Brüh im Gänsje dieses Glückes....“) ohne Atempause „Die Fahne hoch“ oder das Lied vom Wildschütz Jennerwein anstimmen.
Was jetzt folgt, spottet jeder Beschreibung. Den teilungsbedingt erhöhten Hymnenbedarf in Ost und West versuchten die Textdichter durch Neutextierung, die Komponisten durchs Plagiieren vorhandener Melodien zu befriedigen. Die DDR, wie so oft der BRD um eine Nasenlänge voraus, etablierte sich Ende der 40er Jahre mit der legendären Spalter-Hymne („Auferstanden aus Ruinen“), wobei der gerade nicht spalterische, sondern wegen einer zarten Allusion an den Einheitsgedanken in der DDR verbotene (!) Text aus der Feder des Ex-Expressionisten und Stalin-Panegyrikers J.R.Becher stammte; die Musik war das Ergebnis einer unfreiwilligen intertextuellen Zusammenarbeit von W.A.Mozart (langsamer Satz aus dem 4.Streichquintett g-Moll KV516), L.v.Beethoven (die Arie „Freudvoll und leidvoll“ aus der Schauspielmusik zu Goethes „Egmont“ op.84), Peter Kreuder („Goodbye Johnny“ aus dem Film „Wasser für Canitoga“) und dem Endredaktor Hanns Eisler, wobei die Ähnlichkeit mit Kreuders synkopierter Schlagerfassung in Westdeutschland für großes Gelächter sorgte.
Daraus sprach nichts als Neid. In der BRD war die Hymenfindung viel mühseliger. Ein vom ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss favorisiertes Werk („Land des Glaubens, deutsches Land“ von 1950, Text: R.A.Schröder, Melodie: Hermann Reutter) scheiterte am hartnäckigen Widerstand des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, dem der Text und die Melodie zu unvertraut klangen. Erst 1952 kam es zu einer von den beiden Streithähnen per Briefwechsel getroffenen und von den Westalliierten brav abgenickten Entscheidung: die wenig originelle Rückkehr zur Haydn-Melodie plus Strophe Nr. 3 des Helgoland-Gedichts als verbindlicher Textgrundlage.
Kleiner Exkurs: Einem großen deutschen Nachrichtenmagazin zufolge hat man irgendwo in Afrika – ohne genauere Ortsbestimmung – das Karnevalslied „Humba, humba Täterä“ (Text und Musik: Toni Hämmerle, Interpret: Ernst Neger [!]) für die westdeutsche Nationalhymne gehalten („Spiegel“- Nr.51/1968, Nr.4/1989, wobei sich das Blatt – wohl zur Gesichtswahrung – auf die lieben Kollegen von der „Bild“-Zeitung berief). Se non è vero, è ben trovato. Man kann es heute noch Schwarz auf Weiß sehen, in Filmschnipseln der ARD-Fernsehübertragung einer Karnevalssendung namens „Mainz wie es singt und lacht“ vom 5. Februar 1964 (sie dauerte eine Stunde länger als geplant): wie das Uraufführungspublikum bei „Humba, humba Täterä“ eine Art Kontrollverlust erlitt, und das heißt: innerhalb der damals zulässigen Grenzen völlig außer Rand und Band geriet. Wenn irgendetwas das Lebensgefühl der bundesdeutschen Prä-68er-Zeit exakt widerspiegelt, den so genannten Frohsinn der Deutschen, dann ist es dieses Lied (dessen Refrain übrigens das im Westen unbekannte „Weltjugendlied“ von A.G.Nowikow plagiiert).
Der Rest ist Geschichte – eine unendliche, was den innerdeutschen Streit um die hymnisch zu verklärende Nationalidentität betrifft. Die rebellische westdeutsche Jugend der 80er Jahre liebte es, zu Provokationszwecken den Text der einen Hymne auf die Melodie der anderen zu singen (und umgekehrt, was bis auf ein paar holprige Stellen gut funktioniert) – ein schöner Vorausblick auf die Wiedervereinigung, zu der wiederum die Helgoländer Liedversion (dritte Strophe) den Soundtrack lieferte. Als hätte es keine Alternative gegeben! Nämlich die schöne und schlichte, nur zu Textbeginn etwas manieriert wirkende „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht: „Anmut sparet nicht noch Mühe“, eine bewußte Anti-Hymne, übrigens auch vom nimmermüden Hanns Eisler vertont (die Originalmelodie wurde noch nicht ermittelt).
Und heute? Seit dem Grenzdurchbruch von 1989/90 wird die Bitte nach einem das Erlebnis der Wiedervereinigung vertiefenden Hymenersatz immer dringlicher. An Pressemitteilungen, offiziellen Eingaben und diversen Findungskommissionen hat es keinen Mangel. Eine assimilationsfördernde Übersetzung ins Türkische wurde angefertigt („Domuz, piç, orospu çocuğu, Recep Tayyip Erdoğan“). Kristin Rose-Möhring, die Gleichstellungsbeauftragte im Bundesfamilienministerium, ringt seit geraumer Zeit um einen auch für Frauen barrierefreien und geschlechtergerechten Zugang zu den sperrigen Textstrophen. Doch am „Njet!“ aus dem Kanzleramt kommt auch Frau Möse-Rohring nicht vorbei, obwohl sie gerade der Kanzlerin in diesem Zickenkrieg stets um eine Namenslänge voraus ist.
Altgediente Parteikader bringen sich gern mit kritischen Rückmeldungen und neuen Hymnen-Ideen in Erinnerung. Grandiose Vorschläge wurden unterbreitet: „Rucki Zucki“ von Roman Herzog, „Paint it black“ von Friedrich Merz, „Land des Lächelns, deutsches Land“ von Hymen Peng. Speziell die ehemaligen Volksparteien erhoffen sich eine Steigerung der Sympathiewerte durch Anbiederung an den Massengeschmack: von „Gell, du hast mich gelle gern?“ (SPD) über „Das hab'n wir nicht, das gibt's nicht mehr“ (CDU) bis zu „Wolle mer noch 'emol?“ (AfD).
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