Titel und ihre Assoziationen

H

HbMuth

Guest
Kürzlich spielte ich mit dem Gedanken, meinen Klavierlehrer zu fragen ob Saties Gymnopédie I seiner Einschätzung nach schon im Bereich meines aktuell Möglichen läge ...

Um mich vorzubilden und als reumütiger Kunstbanause bei dem Stück nicht an alkoholische Getränke denken zu müssen (dank Fernsehwerbung), hab ich mal bei Wikipedia nachgelesen, was "Gymnopedie" eigentlich bedeutet.

Nun, okay, das Stück ist für mich auf jeden Fall eh zu kompliziert. Oder auch vielen Dank an die alten Griechen, die nicht nur Demokratie, Theater und die Obertonreihe dagelassen haben, sondern auch ... – Na, ne, dann denke ich doch lieber an Hopfenplörre, die ich eh nicht trinke.

Gibt es noch andere Werktitelentscheidungen, die eurer Meinung nach heute in einem unvorteilhaften Licht erscheinen würden? Also ich glaube, dass Satie heute mit dem Titel nen zünftigen Shitstorm vom Zaun brechen könnte.

Und kürzlich wollte ich doch noch fragen, warum die Klassiker ihre Werke nur benummerten statt betitelten, allenfalls die Tonart benannten. Kann mir die Antwort denken: Sie wollten es sich nicht mit ihren Gönnern verscherzen. "Wie, Herr Mozart, Ihr neues Werk heißt ›Der Fürstin ihr Holz‹?«

Klassische Titel beweisen halt, dass sich die Komponisten von einst auf die Musik konzentrierten, noch wirklich »in Musik« dachten, wie die Leute heute »in Deutsch« oder »in Bildern«. Von SEO-sensibler Titelgebung haben sie schlicht noch nichts verstanden.
 
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Gibt es noch andere Werktitelentscheidungen, die eurer Meinung nach heute in einem unvorteilhaften Licht erscheinen würden?
So manche Bezeichnung von Musikstücken ist aus meiner Sicht, vielleicht auch generell aus heutiger Perspektive, merkwürdig bzw. sogar unpassend. Nachtmusik? Verlorener Groschen? Vogel als Prophet? Das sind Beispiele für sehr spezielle Titel, die sich nur aus einem entlegenen, teilweise (musik-)historischen Kontext verstehen lassen. Der Musik tun diese Titel jedoch keinen Abbruch.

Bei Satie erscheinen die Titel („Nackte Füße“) und auch die Musizieranweisungen (z.B. „leicht wie ein Ei“) oft sehr exotisch und bewusst humorvoll. Satie hat vieles mit ironischer Distanz formuliert, vermutlich sogar gerade deshalb, um sich auf diese Weise über das Gebaren des Musikbetriebs lustig zu machen.

Ich würde Titel nicht überbewerten, sondern sie als das betrachten, wie Debussy seine Preludes behandelt hat: Hier stehen die Titel ganz am Ende des jeweiligen Stücks - gedacht als Vorschlag für eine außermusikalische Assoziation, nicht als verbindliche Vorgabe.
 
Gibt es noch andere Werktitelentscheidungen, die eurer Meinung nach heute in einem unvorteilhaften Licht erscheinen würden?

Was an gut gebauten sportlichen Jünglingen unvorteilhaft sein soll (abgesehen davon, dass Nacktheit beim Sport hinderlich sein kann) erschließt sich mir nicht.
:konfus: :denken:


„Acht Sauschneider müssen sein“ passt da meiner Wahrnehmung nach schon eher.
;-)
 
Was an gut gebauten sportlichen Jünglingen unvorteilhaft sein soll
Nun, ein männlicher Komponist sollte heute, zumindest ohne ein gerüttelt Maß Selbstbewusstsein, das die reactio entsprechender Provokationen aushält, ein Stück nicht gerade unter dem Titel »Spiele der jungen Nackedeis« veröffentlichen. Ich meine, das kann er schon, aber berühmt wird er damit allenfalls in Dunstkreisen, die ihre Neigung womöglich gerne historisch verklären, und denen er seine Person wahrscheinlich nicht nahe gestellt sehen möchte.

Für mich klingen die Gymnopédies jedenfalls nicht mehr so lernenswert, nachdem ich nun weiß, wonach sie betitelt sind. Das hat Gründe; ironischerweise habe ich die Musik und das Klavierspiel als neues Hobby nicht zuletzt ihres therapeutischen Effekts wegen entdeckt und bin da in einigen Dingen vielleicht etwas sensibel. Den Thread hab ich aber eher allgemein als Sammlung von Titeln gedacht, die, frisch auf ein neues Werk gepappt, sich heute an unserer Political Correctness oder ähnlichem entzünden würden.

Andererseits, sollte man bewusst Gefahr laufen sich die halbe klassische Literatur zu verbrennen, indem man die Bedeutung ihrer Titel recherchiert? Würde nicht ein Gutteil heute oder irgendwann sexistisch, rassistisch, etc. wahrgenommen werden? Oder sind wir bin ich in unserer postfaktischen, post-aufgeklärten Gesellschaft einfach nur noch hysterischer als Mutti erlaubt? Wobei Mutti uns ja gar keine Hysterie erlaubt, dafür sind ja andere zuständig.

Also könnte man daraus auch einen Ratschlag ableiten: Wer ein Interesse daran hat, dass seine instrumentalen Kompositionen die Weihe der Zeitlosigkeit genießen, sollte sie unspektakulär benennen. Schematisch »[Werkgattung] [Nr.]«, klassisch irgendwas mit der Tonart, alles und nichts sagendes wie »Leben«, oder mit interessanten Anklängen ans Heute, ohne ans Heute allzu stark gebunden zu sein: »Leute im Netz, Fische wieder frei«, »Auf allen Viren« (nur echt mit Einsatz der ganzen Pedalerie) ... Schon die »Wut über den verlorenen Groschen« klingt ja heute vom Titel her schon obsolet, da es heute nur noch 10-Eurocent-Münzen gibt und ich diese nie "Groschen" genannt gehört habe.

Nicht fehlen in der Liste sollte natürlich Mozarts »Leck mich am Arsch«. Und wenn wir schon bei Übersetzungen sind: Heute, im modernen Vulgärdeutsch, hieße das womöglich "Isch f. d. M. A.", bevorzugt in ausgesprochener Form. Krass.

Generell bin ich da geneigt, dass ich aus dem Titel eines Werks Interpretationsvorschläge lese. Statt aber an nackte Knaben zu denken entleere ich gedanklich lieber weiterhin ne verwaiste Flasche schales Bier ins Plumpsklo bei Strandaufgang 8 und lass mich dann in die Düne fallen. Dass Werbung bei mir nicht wirke, kann ich leider nicht behaupten, tja, immerhin nicht so wie sich das die Marketingabteilungen erhoffen.
 
Ich gehöre ja auch zur komponierenden Horde der Musiker und mir fällt es immer sehr schwer, meinen Stücken Namen zu geben. In meinen Ohren kann Musik so viel mehr als Sprache, dass eigentlich jeder Titel sie festlegt auf etwas, was sie gar nicht ist, Ausnahmen sind natürlich Formbezeichnungen wie Sonate oder Fuge.
Bei Liedkompositionen bin ich fein raus, da gibt´s ja schon einen Titel ;-)
 
Ich gehöre ja auch zur komponierenden Horde der Musiker und mir fällt es immer sehr schwer, meinen Stücken Namen zu geben.

Das habe ich aber anders in Erinnerung. Aber vielleicht habe ich Deine gewählten Namen geträumt.
;-)

Nun, ein männlicher Komponist sollte heute, zumindest ohne ein gerüttelt Maß Selbstbewusstsein, das die reactio entsprechender Provokationen aushält, ein Stück nicht gerade unter dem Titel »Spiele der jungen Nackedeis« veröffentlichen.

Ehrlich gesagt wusste ich bis zum Lesen des Eröffnungsbeitrages gar nicht, dass sich der sportliche Wettkampf hinter Saties Werk verbirgt. Da ich der französischen Sprache (starrköpfig gewollt) nicht mächtig bin, habe ich mich nicht weiter darum gekümmert.
:-D

Zurück zum Anfang Deines ersten Satzes: Eine Komponistin darf sich demnach eines solchen Titels bedienen?
;-)

Haydn hat anscheinend ein starkes Selbstbewusstsein in Anbetracht dessen, dass er die Kastration von Paarhufern vertont und die Sauschneider genau instruiert hat, wo sie zu stehen haben. Dann doch lieber knackige Jünglinge.
:-D ;-)
 
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jepp --- @virtualcai der Typ (krasse Stirn, vulgäre Sprache) war nicht nur Wiederholungs- sondern Mehrfachtäter: Sturmsonate, Pastorale-Sonate, Testament-Sonate, Schicksalssinfonie ...

und der Polenbursche, der sich in Paris von einer Adeligen aushalten ließ: Revolutions-, Schmetterlings-, La-Negresse-, Ozeanetüden (sic! Etüden, fade Fingerübungsstücke mit hochtrabenden Namen...)

...grauslich sowas... mehr Sachlichkeit, bitteschön!

;-) :-D :drink:
 
Wann wird es endlich Urtitel-Editionen geben?
Hmm kritische Fußnoten zu von Biographen, Freundinnen und Dichtern der Nachwelt vergebenen Titeln wären eigentlich tatsächlich nicht schlecht.
Wird übrigens auch einige geben, die feste an Mondschein denken, um Beethovens Intentionen nachzugehen wenn sie das langsame Lied "Mondscheinsonate" spielen.
 

Wobei der Titel "Mondscheinsonate" gar nicht vom Genie persönlich stammt, sondern von seinem Verleger. Original heißt sie "Sonata quasi una phantasía". Verleger sind ja bekanntlich gut darin, die Werktitel so zu wählen, wonach es den Markt verlangt.

Du veröffentlichst morgen ein Buch titels "Gelöbnisse eines revolutionären Pfaffen" und als was wird es übermorgen im Schaufenster stehen? "Voll krass, Alter, das musst du vor deinen Freunden behaupten gel... ja, tschüss auch". Oder so.

Hm, ich habe gerade echt Gedanken, ob ich meine nächste Komposition (Werktitel: "Voll krass, Alter, musst du hör... egal.") wirklich "Anfängerstück 4" taufe. Von wegen, Vorherrschaft Chinas in der Welt. China, wie man weiß, meidet die Zahl 4, weil die so ähnlich klingt wie "Tod".
 
In der Wikipedia ist dazu in der Tat zu lesen: Während jener Zeit, in der die Sonate ihren ersten Bekanntheitsgrad erwarb, wurde sie auch „Laubensonate“ genannt, da Beethoven den ersten Satz in einer Laube improvisiert haben soll. Den populären Namen Mondscheinsonate erhielt das Werk erst später, einige Jahre nach Beethovens Tod, von dem Musikschriftsteller Ludwig Rellstab, der sich beim Hören des ersten Satzes an eine Bootsfahrt auf dem Vierwaldstättersee erinnert fühlte.
 
voll krass ey Alder - BOAH
...es hat sich hier tatsächlich herumgesprochen, dass nicht restlos alle bekannt/beliebt/berühmt gewordenen "Namen" (recte Beinamen) von den erfolgsgeilen marktorientierten Kompositeuren stammen - wow

...aber es gibt trotzdem viele, die nicht nachträglich von anderen angeklebt wurden:
- igitt, französische Pagoden (die spinnen die Rotweinsäufer... na ja, wer Frösche frisst...), französische absaufende Kathedralen, statt der ureigenen Guillotine ein französischer Galgen, oh die Franzen mit ihrem Mondlicht, ihren exzentrischen Generälen...
- pfui Teufel, die stiermordenden Macho-Toreros: Städtenamen als Musiktitel, Goyabilder...
- sodann die reussischen Moskowiter: Stadttore, Hexen, Katakomben, Girlanden, düstere Flammen, teuflische Einflüsterungen und tausenderlei Blödsinnigkeiten
- Norwegens Luft, kalt, klar und rein? Pustekuchen: Erotik, Hochzeitstage, Glocken...

...die Liste der "poetischen Titel" eräbe ein dickes buntscheckiges Buch...
 
Mein Liebling in dieser Beziehung ist die Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31,2 von Beethoven, die den völlig in die Irre leitenden Beinamen 'Der Sturm' (er)trägt.
Die offenbar unausrottbare Assoziation mit einem Wetterphänomen hät die - wahrscheinlich auch falsche - anekdotische Begründung für diesen Beinamen verdrängt. Und so poltern und klopfen und rasen sie frisch-fromm-dumm durch dieses subtile Meisterwerk ...
 
Mein Liebling in dieser Beziehung ist die Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31,2 von Beethoven, die den völlig in die Irre leitenden Beinamen 'Der Sturm' (er)trägt.
dazu Tante Google & Onkel Wiki
Die Bezeichnung Der Sturm geht auf eine angebliche, vom Beethoven-Biographen Anton Felix Schindler behauptete Äußerung des Komponisten zurück,
 
Die offenbar unausrottbare Assoziation mit einem Wetterphänomen hät die - wahrscheinlich auch falsche - anekdotische Begründung für diesen Beinamen verdrängt.
https://www.kammermusikfuehrer.de/werke/2890 meint dazu:
Seinem Schüler Carl Czerny sagte Beethoven damals: Ich bin mit meinen bisherigen Arbeiten nicht zufrieden. Von nun an will ich einen anderen Weg beschreiten.” Kurz darauf erschienen die drei Klaviersonaten op. 3 1. Eine mannigfaltige Abweichung von der üblichen Sonatenform und insbesondere die außermusikalischen Anregungen durch poetische Ideen in der hochexpressiven zweiten Sonate zeigen den von Beethoven bezeichneten anderen, neuen Weg. im ersten Satz von Opus 31,2 nimmt Beethoven eine Erweiterung des Sonatenhauptsatz-Prinzips vor, eindeutige Funktionsbestimmungen werden relativiert. Als Form- und Gestaltungsmittel wird gerne das Drama Shakespeares Der Sturm verantwortlich gemacht, weshalb diese Sonate auch als Sturm-Sonate in die Literatur einging. Es ist aber vielmehr die Stimmung des Satzes, die eine Verbindung zum Sturm herstellt. Seinem Biografen Anton Felix Schindler gegenüber äußerte Beethoven auf die Frage nach dem “tieferen Sinn” für sein Werk: “Lesen sie nur Shakespeares Sturm,”. Die von Beethoven geäußerten, aber nicht spezifizierten poetischen Ideen kennzeichnen zum ersten Mal das Poetische in der Musik durch außermusikalische Anregung. Das markiert einen Anfang hin zur “neudeutschen Schule” um Liszt, und in Folge zu Wagner, Strauss und zur Geschichte der Programmmusik.
 
... wobei es Programmmusik ja nun auch schon vorher gegeben hat. Das prominenteste Beispiel sind Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.
 

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