Guten Morgen,
@Hasenbein, du schreibst:
Ich denke auch: Was Du meinst, ist so was wie der Unterschied zwischen z.B. Chopin op.25 Nr.1 und "Hummelflug" - beide Male haben wir zwar eine hohe "Raster-Geschwindigkeit", aber das erste Stück wirkt ruhiger und lyrischer, das zweite wirkt bewußt temporeich. Das ist in der Tat eine Sache des gefühlten Grundpulses (und natürlich auch von Phrasierung, Dynamik und Timing).
Damit hast du es ziemlich auf den Punkt gebracht. "Tempo" bedeutet für mich eben die Gesamtschau aller einsetzbaren Mittel, um das Zeiterleben zu gestalten. Geschwindigkeit ist hierbei nur eine Zutat. So ähnlich hatte ich es auch gemeint als ich in Beitrag #42 schon schrieb:
Zitat von Sesam:
Geschwindigkeit und Tempo sind für mich zweierlei. Letzteres hat etwas mit aktiver Zeitgestaltung zu tun, eben ein viel, viel "künstlerischer", kreativer Vorgang als das langweilige Strecke/Zeit Verhältnis inform von Geschwindigkeitsangaben.
Zwar könnte man/wird Rolf sagen ;), dass Phrasierung, Dynamik und Timing etc., etc. für sich stehende Aspekte sind und Tempo/Geschwindigkeit ganz etwas anderes ist....nun, für mich nicht. Deshalb trenne ich beide Begriffe: Geschwindigkeit gibt, wenn man so will, die reine Metronomzahl an, das Tempo bezieht sich auf alle Mittel, die das Zeitflusserleben gestalten können. Mag sein, dass ich hiermit ganz alleine dastehe, aber was wäre die Kunst, wenn immer alle dasselbe denken?
@violapiano
Zitat von violapinao:
Was hier noch nicht angesprochen worden ist:
Ich möchte meinerseits mal in Frage stellen, dass alles immer schön klingen muss.
Was meinen die Anderen dazu?
[...]
Ich habe den Eindruck, dass das Neigen zu verlangsamten Tempi häufig daher rührt, allem einen "schönen" Charakter geben zu wollen.
Da sprichst du einen guten Gedanken an. Ich bin der Meinung: ja, alles muss unbedingt immer schön klingen. Allerdings haben wir jetzt das Problem: was ist schön?? Klar, dass ich dir diese Frage zurückspiele, oder? ;)
Am ehesten gibt einem wohl die Komposition selbst Auskunft über ihre "Schönheit", es ist zwar verführerisch und beinah unwiderstehlich den eigenen Hörgewohnheiten und der eigenen Hör"sozialisation" zu folgen, aber daran kann man arbeiten.
Meine Vorstellung von Schönheit: Musik und Sprache sind für mich was die beiden Aspekte Syntax und Semantik (mal ganz grob) betrifft verwandt. Dieser Meinung muss sich niemand anschliessen. Hierbei gibt es sozusagen eine Minimalvoraussetzung was Schönheit betrifft: die Regelhaftigkeit beider Aspekte (oder eben die regelhafte Unregelhaftigkeit) müssen befolgt sein. Was das Beispiel der Waldsteinsonate betrifft, hört sich die "Klangrede" (?) beim unbekannten Pianisten nach wahrloser Aneinanderreihung irgendwelcher Buchstaben/Zeichen an, das ist nicht schön. Guldas Interpretation kommt bei mir als Klangrede (!) an, das empfinde ich als schön. Dem Schönheitsempfinden nachgeordnet steht noch die Frage des Gefallens. Und auch dafür kann man analog zur Sprache/Literatur spicken, derselbe Text/Klangrede kann so oder so vorgelesen werden. Je nach Lesart werden einem verschiedenste Zusammenhänge und Bedeutungen bewusst(er). Alles natürlich unter der Voraussetzung, dass die o.g. Regelhaftigkeit gegeben ist, die, keine Frage, auch chaotischstes Treiben umfasst, Schreien, Kreischen, Verzweiflung, Besinnungslosigkeit, Untergang, Vernichtung, Leere....
Soweit mein Umgang mit Schönheit in der Musik.
LG, Sesam
P.S. meine eingangs erwähnte Hoffnung, dass sich eine offene Diskussion entwickelt, scheint in Erfüllung zu gehen, Danke! :p