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Strawinsky als Komponist
Künstlerisch-naturwissenschaftliche Doppelbegabungen gibt es häufiger, als sich die übliche Biographik träumen läßt. Zwar sind schon ein paar Beispiele feuilletonistisch ausgeschlachtet worden, fast bis zum Überdruß: die Malerei des italienischen Patentesammlers Leonardo da Vinci, die skurrilen Gedankenspiele des schwäbischen Primgeigers Albert Einstein – oder jene Possen und Melodramen, die man seit langer Zeit dem englischen Brauereibesitzer William Shakespeare anzudichten versucht.
Das ist nichts gegen die krude Wirklichkeit, die bekanntlich die besten Geschichten schreibt, zum Beispiel in Gestalt der akademischen, juristisch geschulten Intelligenz des russischen Zarenreichs am Vorabend der Oktoberrevolution: Meisterdenker ihrer Zunft, die nebenher ein Faible für das Schöne hatten. Von Wassily Kandinsky, dem Autor der scharfsinnigen Monographie „Über die Gesetzmäßigkeit der Arbeiterlöhne“ (Moskau, 1893), weiß man, daß er auch gemalt hat. Sogar der zunehmende Deutlichkeitsverlust auf seinen Bildern wurde schon ophthalmologisch ausgewertet. Einen weiteren Fall präsentiert jetzt Nadina Sokolowa unter dem Titel „Beruf verfehlt?“ in der jüngsten Ausgabe von „Russkaja musika“ (01/2021): Igor Strawinsky, der brillante Meisterdenker, Verfasser etlicher Proseminar- und Klausurarbeiten über juristische Themen, das visionäre Haupt der „Sankt Petersburger Juristenschule“, war ein Leben lang der Musik zugetan. Die in seinem Nachlaß aufgetauchten Skizzen und Partiturentwürfe haben Frau Sokolowa veranlaßt, Strawinskys kompliziertes Leben konsequent auf künstlerische Aktivitäten hin zu untersuchen, und sie ist auf erstaunliche Weise fündig geworden.
Musikalische Begabung war in Strawinskys Familie durchaus anzutreffen. Fjodor, der Vater, war als Bassist 26 Jahre lang ein festes Ensemblemitglied des Petersburger Mariinski-Theaters. Strawinskys frühverstorbener Bruder Gury muß die Musikalität des Vaters geerbt haben. Ihm wurde eine schöne Baritonstimme nachgesagt. Der junge Igor hatte weniger Glück. Er nahm zwar Klavierunterricht und versuchte auch, sich in Musikerkreisen Gehör zu verschaffen – aber mit durchweg negativem Ergebnis. Er diente sich Alexander Glasunow an, mit der Klaviertranskription eines Glasunow-Streichquartetts, und erreichte das Gegenteil: Der sich qua Transkription so verhunzt fühlende Großmeister der russischen Symphonik bescheinigte Strawinsky, absolut unmusikalisch zu sein. Mehr Erfolg hatte der aufstrebende Jungjurist bei Rimsky-Korsakow. Der Altmeister des „Mächtigen Häufleins“ sah wohl mit einiger Bestürzung Strawinskys Kompositionsversuche und konnte dem jungen Mann immerhin vom Konservatorium abraten, dessen Aufnahmeprüfung Strawinsky nie bestanden hätte. Aber Rimsky-Korsakow war gerissen genug, dem eleganten Nachwuchsjuristen Privatunterricht zu empfehlen, und zwar am besten bei ihm selbst, dem Meister, i.e. Rimsky-Korsakow. Man darf nicht vergessen: Strawinsky war ein reicher Mann, im wahrsten Wortsinne begütert (bis zur Enteignung durch die Bolschewiki), mit einem Landgut in Wolhynien, das genug Knete abwarf für ein ausschweifendes Leben als Petersburger Dandy. Diese Geldquelle durfte man sich nicht entgehen lassen.
Also saß der schon nicht mehr ganz so junge Igor auf einem Hocker neben Rimsky, dem letzten der fünf „Novatoren“, und durfte ihm beim Klavierspiel die Noten umblättern. Er lernte wohl auch Tonsatz-Grundregeln (den vierstimmigen Chorsatz) und durfte unter Aufsicht des Meisters Klavierstücke instrumentieren. Das ging einige Jahre lang gut (Rimsky-Korsakow + 21.Juni 1908) und reichte Strawinsky aus, um sich danach in den bei Osteuropäern so beliebten deutschen Kurbädern (plus Spielcasino) oder proto-exilrussischen Gemeinden in Paris, Nizza und Monte Carlo am Klavier mit Potpourris heimatlicher Volksweisen hervorzutun. Speziell dies, die potpourri-artige Aneinanderreihung oder quodlibet-hafte Verschränkung von Elementen osteuropäischer Folklore, bäuerlicher Tanzstücke, von Arbeits- und Hochzeitsliedern bis hin zum Abzählreim für Kinder, wurde bei Strawinsky zu einer wahren Obsession, die ihn im Paris der Vorkriegsjahre (WK I) sogar die Öffentlichkeit suchen ließ. Mit „Жаръ – птица“ (Der hitzige Vogel), „Петрушка“ (Petersilie), und „Весна священная“ (Die Frühlingsoper), sind mindestens drei Events nachweisbar, an denen sich Strawinsky – laut Besetzungsplan und Theaterzettel – beteiligt haben muß, später noch ergänzt durch „Les Noces“ (Die Nächte) für Gesangsquartett, Männer-, Frauenchor und Klavier plus Schlagwerk: der reinste Musikantenstadl, nur auf Russisch, dargeboten in farbenprächtiger Bauerntracht und naiv gemalten Kulissen, die einem urbanen Publikum das Dorfleben als exotischen Schaureiz nacherlebbar machen sollten. Tatsächlich ist dieser frühe Strawinsky am besten zu begreifen, wenn man sich ihn als einen russischen Carl Orff vorstellt (nur ohne dessen eminente Begabung).
Aber der Krieg und zwei Revolutionen hatten alles verändert, und der inzwischen vaterlands-, besitz- und arbeitslose Jurist wurde das erste Mal verhaltensauffällig, zumindest musikalisch: mit einer Ballettpartitur, die er für Serge Diaghilew schreiben sollte. Der große Impresario hatte von Strawinskys Geldsorgen gehört, und aus einer Geste landsmannschaftlicher Solidarität heraus verhalf er dem depravierten Großbürger zu einem Kompositionsauftrag: der Orchestrierung kleiner Kammermusikstücke und Arien aus der Feder Giambattista Pergolesis (wie man damals dachte) für ein Pasticcio namens „Pulcinella“ (Kleines Küken). Das ging natürlich schief. Strawinsky hatte keine Ahnung von der Besetzung eines Barockorchesters, und sein Mangel an Tonsatzkenntnissen verdarb ihm alles. Statt sich um die korrekte Ausnotierung eines bezifferten Generalbasses zu kümmern, und zwar im Geiste des seinerzeit harmonisch zulässigen, ersetzte oder ergänzte er die barocken Harmoniefolgen durch Orgelpunkte, wie sie ihm aus der russischen Volks- und Kirchenmusik vertraut waren. Das führte zu dissonanten Reibungen, absurden Stimmverläufen. Klanglich gipfelte das Werk in einem Duo für glissandierende Posaune und Kontrabaß. Diaghilew war zu Recht entsetzt, aber für eine Neufassung der Neufassung war es zu spät, der Uraufführungstermin stand fest, und so kam „Pulcinella“ in Strawinskys entstellender Version zu Gehör. Natürlich wurde die Insuffizienz der Partitur in der Fachwelt gebührend gewürdigt. Aber als ein Kuriosum ist doch zu vermerken, daß die Unbeholfenheit ihrer Stimmführung musikgeschichtliche Folgen hatte: bei seriösen Komponisten wie Francis Poulenc, der den Reiz einer solchen Dissonanzbehandlung als Stilmittel in seine eklektische Tonsprache zu integrieren verstand.
Strawinskys finanzielle Situation war jedenfalls heikel. Für die Approbation als Rechtsanwalt fehlte ihm der nach westeuropäischem Verständnis nötige Studienabschluß. Für seine bedeutenden rechtswissenschaftlichen Arbeiten fand sich kein französischer Übersetzer, erst recht kein Verlag. Nur durch Gönner wie Diaghilew, Kussewizky und Ida Rubinstein bekam „Fürst Igor“ kleine Arrangieraufträge zugeschanzt, die ihm zu überleben halfen, wobei man Diaghilew nicht hoch genug rühmen kann, der immer auch Laien in seine Arbeit einzubinden oder Künstler zu Grenzüberschreitungen zu überreden versuchte (und sogar den ukrainischen Pianisten S.Prokofjew zur Komposition eigener Musik angeregt haben soll). Strawinsky versah jedenfalls ganze Stapel jungfräulichen Notenpapiers mit Schlüsseln und Taktstrichen, Notenbäuchen und -hälsen, wie ein professioneller Arrangeur, Kopist oder Komponist. Er schrieb drei Chorstücke auf kirchenslawischer Textbasis, wohl für eine Aufführung in der orthodoxen Pariser Alexander-Newski-Kathedrale gedacht, dem Tummelplatz russischer Exilanten, und schuf eine neue Ballettpartitur, „Le baiser de la fée“ (Feen-Beischlaf [?]), dieses Mal auf einer gesicherten Materialbasis: Lieder und Klavierstücke von Peter Tschaikowsky.
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