Natürlich gibt es auch in der Modalität Spannungsverhältnisse!
Möglicherweise. Aber sie sind weit schwächer als das Spannungsverhältnis V-I, das die wesentliche Grundlage der abendländischen Musik in der Zeit von ca. 1600 bis ca. 1900 bildet.
Auch in dieser Dur-/Moll-tonalen Zeit haben allerdings nicht einzelne Skalentöne eine bestimmte "Energie" oder "Spannung" - der Spannungsgehalt eines Tones hängt
immer vom rhythmisch-harmonischen Kontext ab. Entscheidend ist nämlich die Harmonie, die aus dieser Epoche nicht wegzudenken ist, auch nicht in der Einstimmigkeit:
Es kommt zweimal der angeblich spannungsarme oder "stabile" Grundton c' vor. Aber wie unterschiedlich ist der Spannungsgehalt tatsächlich! Bei (1) handelt es sich um einen Quartvorhalt der Dominante. Diese Harmonie ist in dieser kurzen Phrase zweifellos vorhanden, auch, wenn sie nicht als Akkord erklingt. Die melodische Kadenzbildung lässt keine andere natürlich wirkende Deutung als T (Auftakt), S6, D4-3, T oder kleine Varianten davon zu. Und schon haben wir ein ernstes Problem mit der Skalenenergetik: Das h (7. Stufe) als Auflösung des Vorhaltes wirkt stabiler als der Grundton c' unmittelbar davor.
Denken wir dieses Beispiel modal, beispielsweise dorisch und fügen als Vorzeichen 2 b hinzu. Wir stellen fest, dass es nun keine eindeutige, als natürlich empfundene Harmonisierung mehr gibt. Die Melodie wirkt seltsam ziellos, denn ohne Dominantspannung gibt es keine wirklich zwingenden Fortschreitungen. Selbst die alten Meister der homophonen Kantionalsätze vor Beginn des Dur-/Moll-Zeitalters haben das intuitiv gewusst und bei dorischen Schlussbildungen die Terz der 5. Stufe praktisch immer erhöht. Ein klares Indiz dafür, dass nicht die Stufe auf der Skala für den Energiegehalt eines Tones verantwortlich ist, sondern Harmonie und Rhythmus die wesentlichen Ursachen von Spannung und Entspannung sind.
Bei der Gregorianik tritt an Stelle der Harmonie die Textmelodie. Den Grundton empfinden wir deshalb als entspannt, weil sich die Stimme am Ende eines Satzes dahin senkt. Dass keinesfalls die Stufe einer Skala dafür verantwortlich ist, beweist z.B. der sogenannte "6. Ton" (hypolydisch): Die Skala entspricht einer Dur-Tonleiter, aber der Ruhepunkt (Finalis) ist nicht die erste Stufe dieser Tonleiter, sondern die 4. Stufe. Ein offener Widerspruch zur angeblichen "Skalenenergetik"!
In moderner, tonaler und atonaler Musik ohne Dur-Moll-Harmonik gibt es ebenfalls keine vorbestimmten Energiegehalte einzelner Töne. Die frühere Dominantspannung wird hier durch etwas anderes ersetzt; entweder durch rhythmische Konstrukte, Dissonanzen unterschiedlicher Schärfe, Klangfarben, Polyphonie unterschiedlicher Komplexität etc. - aber grundsätzlich kann jeder Ton des zugrundeliegenden Materials jeden Grad von Spannung bekommen.
Ich bleibe dabei: "Skalenenergetik" ist möglicherweise etwas für Esoteriker. Für Musiker eignet sie sich ganz sicher nicht.
LG, Mick