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Zu Anton Bruckners 7.Symphonie
Bei kaum einem klassischen Musikwerk stößt man auf so kuriose Angaben zur Entstehungsgeschichte wie im Fall der 7.Symphonie E-Dur von Anton Bruckner, 1881-1883 in St.Florian komponiert. Es handelt sich um Detailangaben, die bei dürftiger Quellenlage und fragwürdiger Zitierpraxis auf den Meister selbst zurückgehen: Das Kopfthema des ersten Satzes soll ihm ein Freund im Traum vorgepfiffen haben; das Scherzothema soll ihm der Hahn auf dem nachbarlichen Misthaufen vorgekräht haben. Das Adagio entstand angeblich als Trauermusik für den zur selben Zeit in Venedig dahinsiechenden Richard Wagner (Todestag: 13.Februar 1883), von Bruckner intuitiv erspürt, bis ihn genau beim Auskomponieren des Höhepunkts (mit dem apokryphen Beckenschlag) die Todesnachricht erreichte. Nur für das Finale fehlt eine vergleichbare Ursprungslegende.
Nimmt man die chromatisch-tristaneske Musiksprache, den Gebrauch von Nibelungen-Tuben und die Widmung an Ludwig II. hinzu, so ist des Wagner-Bezugs in dieser Symphonie wahrlich kein Ende – was aber nichts zu besagen hat, weil er auch Teil einer für Bruckner typischen Vermarktungsstrategie war: Bruckner bediente sich des Wagner-Vereins in Wien wie auch der Wagnerianer „im Reich“ als Hilfsmittel gegen den von Hanslick initiierten Aufführungsboykott seiner Werke. Allerdings: Wenn der Bezug zum Bayreuther Meister nur Staffage ist – was könnte dann programmatischer Hintergrund dieser ,Sinfonia caratteristica' sein? Der Hahn auf dem Mist? Die nächtliche Traumvision?
Ein Fall für Constantin Floros, den Nestor der deutschsprachigen Musikwissenschaft, der sich mit der Entzifferung byzantinischer und slawischer Neumen die ersten Sporen verdient und darüber sein Dechiffrierhandwerk gelernt hat – was ihm zugutekam, als es darum ging, aus der abendländischen Instrumentalmusik versteckte Botschaften herauszuhören, wie es sonst nur besorgte Eltern mit dem Satans-Rock ihrer Kinder tun. Als blindes Huhn fand Floros sogar mal ein Korn – und in Bergs „Lyrischer Suite“ die versteckte Hommage an eine ferne Geliebte, mit Hilfe der von ihm entwickelten „neuen Methode der semantischen Analyse“, und als die Berg-Forschung seinen Befund bestätigte, sah er sich auf eine Weise bestätigt, die einem Kopfmenschen wie ihm natürlich zu Kopf gestiegen ist. Obsessiv durchforstet er seitdem alle tönend bewegten Formen nach versteckter Programmatik. Wer das unter den Noten verborgene Privatissimum, den autobiographischen Wesenskern der Musik nicht so wie er wahrnimmt, der hört, liest und musiziert am Wesentlichen vorbei. ,Floros gelesen – dabeigewesen', sagt die Branche und meint: Die Lektüre seiner semantischen Analysen erspart den Kunstgenuß. Wozu sich mit originalen Enigma-Funksprüchen belasten, wenn zwei Blocks weiter die dechiffrierte Information vorliegt?
Wer in diesen Worten eine gewisse Galligkeit zu spüren vermeint, dem sei versichert, daß Constantin Floros mit seiner Analyse von Bruckners 7.Symphonie ein echter Scoop gelungen ist, wie der Angloamerikaner sagt. Das muß man neidlos anerkennen. In seinem Aufsatz „Jetzt duckst di – Anton Bruckners 7.Symphonie“ (Archiv für Musikwissenschaft Bd.75) beschreibt der Hamburger Emeritus zunächst das urbane Klima im Wien der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts: Der ländlich-unbeholfene Bruckner sah sich an letzter Stelle in einer von Brahminen festgelegten Hackordnung. Gegen diese Übermacht konnte er nicht diskursiv, höchstens musikalisch vorgehen. Aus Angst vor der Dominanz des gegnerischen Lagers (O-Ton Brahms: „Fassen Sie es auf, wie Sie wollen: Bruckner verdankt seinen Ruhm ausschließlich mir, und ohne mich hätte kein Hahn nach ihm gekräht“), verschwieg Bruckner den Inhalt seiner durchweg programmsymphonischen Arbeiten. Was nun das verschwiegene Programm der 7.Symphonie betrifft, so ergibt sich dabei als Pointe, daß ihr Rekurs auf Wagner zwar Staffage, aber dennoch informativ ist, weil er die richtigen Fingerzeige gibt. Jedes kuriose Detail ist ein Puzzlestein zur Rekonstruktion des wahren Bildes – mitsamt dem offiziellen Widmungsträger, dem armen Ludwig II.
Der Wagner-Bezug camoufliert Bruckners einseitiges Interesse an der Oper „Tristan und Isolde“, genauer gesagt: an einem Aspekt ihrer Entstehungsgeschichte. Bruckner und Wagner hatten einander 1865 in München kennengelernt, anläßlich der „Tristan“-Uraufführung, und sahen sich 1873 in Bayreuth wieder, um das Gespräch über ihr musikalisches Schaffen fortzusetzen. Wagner berichtete vom schmerzlichen Entstehungsprozeß des zweiten „Tristan“-Aktes, der mit einem Venezianer Schreckenserlebnis einherging – hier nachzulesen im Brief an Mathilde Wesendonck: „Vor kurzem fiel mein Blick von der Strasse in den Laden eines Geflügelhändlers; gedankenlos übersah ich die aufgeschichtete, sauber und appetitlich hergerichtete Ware, als, während seitwärts Einer damit beschäftigt war, ein Huhn zu rupfen, ein Andrer soeben in einen Käfig griff, ein lebendes Huhn erfasste und ihm den Kopf abriss. Der grässliche Schrei des Thieres, und das klägliche, schwächere Jammern während der Bewältigung, drang mit Entsetzen in meine Seele. – Ich bin diesen so oft schon erlebten Eindruck seitdem nicht wieder los geworden. […] Dieses Mitleiden erkenne ich in mir als stärksten Zug meines moralischen Wesens, und vermuthlich ist dieser auch der Quell meiner Kunst.“ (Brief vom 1.Oktober 1858). Bruckner muß hier die besondere Nähe zu seinem Bayreuther Kollegen gespürt haben, denn in der hochchromatischen Musiksprache des Adagios der 7.Symphonie verquickt er Wagners traumatische Erinnerungen mit einem Aspekt seiner eigenen Biographie.
Im Kontext dieses Erlebens werden auch die anderen, oben erwähnten Puzzlesteine beredt. Lassen wir Bruckner in seinem geliebten Heimatidiom Bericht erstatten – wie von Schülern und Adepten überliefert:
- zum Kopfthema des ersten Satzes: „Des Thema is' gar net von mir. Im Traum hat der Dorn mir des vorg'pfiffen und g'sagt: 'Bruckner, mit dem Thema wirst Dein Glück mach'n'. Da bin i aufg'schtanden, habe a Kerz'n ang'zündet und es glei aufg'schrieben.“ (Zur Rezeptionsgeschichte: Bisher ging die Forschung von Ignaz Dorn aus, einem Linzer Kapellmeister und Freund Bruckners.)
- zum Hauptthema des Scherzos: "Ja, gut is' schon, aber es is' halt net von mir. Die Melodie hat immer a Hahn g'sungen, der neben mein' Haus auf dem Misthaufen g'hockt ist!"
- aus Bruckners Kontrapunktunterricht: „Sie werden gewiß auf dem Land schon mal gesehen haben, wie a Bäurin a Hendl abfängt. Das Hendl rennt, die Bäurin rennt, das Hendl schreit, die Bäurin schreit, beide versuch'n einander den Weg abzuschneid'n. Sehn S’, das ist die Fuge: a ewig's Hasch'n und Flieh'n der beiden Stimm'n, von denen jede ihre eig'ne Melodie führt.“
Man ist gewillt, dem Hamburger Musikwissenschaftler auf diesen Entdeckungstouren bereitwillig zu folgen. Floros belegt seine Angaben mit großer Akribie. Nur am Ende verliert er sich in etwas gewagten Spekulationen über eine theologische Meta-Ebene, auf der Bruckners Gallinophilie als Kritik am Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit zu verstehen sei; letzteres war 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil proklamiert worden. Immerhin ist die Begründung lesenswert: Seit der vom Evangelisten Johannes und den Synoptikern übereinstimmend berichteten Verleugnung Christi durch Petrus, den späteren ersten Papst, gilt der aus dem off ertönende Hahnenschrei als kritischer Begleitkommentar zum päpstlichen Versagen. Als solcher gewann er leitmotivische Bedeutung für die Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas. Es ist allerdings fraglich, ob der von schlichter Volksfrömmigkeit geprägte Bruckner dieses Reflexionsniveau besessen hat.
Stattdessen wäre Bruckners franziskanische Verbundenheit mit dem Frate Gallo hervorzuheben, seine kreatürliche Liebe, wie sie vor allem in der historisch informierten Einspielung der 7.Symphonie unter Hahnoncourt erfahrbar wurde. Niemand hat ergreifendere Worte dafür gefunden als Oskar Loerke in „Anton Bruckner. Ein Charakterbild“: „Der Weg in dieses Überbewußtsein war der Weg des Brucknerschen Lebens. An ihm hatte er nicht als verweslicher Mensch teil, sondern als Gefäß unverweslicher Natur. Und das Wort Natur streng genommen, gibt es für das menschliche Urteil nicht ein Stück Natur und nicht das Ganze der Natur, denn das Wesen hebt den Begriff der Grenze auf. Ein Vogel wäre nicht ohne alle Vögel, ein Mensch nicht ohne die Menschheit.“ Und man sollte ergänzen: ein Mensch auch nicht ohne seinen Vogel.
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