Ich habe als "gleichwertige" Beispiele Mordopfer, Verkehrstode, Verhungernde... gebracht, mit deren Schicksal man sich ebenso sekündlich beschäftigen könnte, wenn man denn so empathisch wäre, wie man nach außen tut.*
Was ich aber noch viel weniger verstehe ist diese grenzenlose Entrüstung, Empörung und öffentlich gezeigte Empathie mit den Opfern von Unbeteiligten.
Lieber Peter,
die Beantwortung der Frage liegt aus meiner Sicht darin, was Barratt schon sagte. Es sind eben die meisten beteiligt!
In diesem Artikel wird eine Studie von 2014 zitiert, dass jede dritte Frau in Europa körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren hat. In Deutschland 35%.
Jede Frau kennt also im Familien- und Freundeskreis Frauen mit solchen Erfahrungen. Ich z.B. kenne gleich mehrere Frauen, deren Schilderungen mich sehr berührt haben (weswegen ich mich hier einbringe). Auch der weitreichende Missbrauch der kath. Kirche, der Odenwaldschule, der Regensburger Domspatzen zählt dazu.
Zudem sind Frauen und Kinder durch ihre meist körperliche Unterlegenheit anfälliger für körperliche Übergriffe als Männer, wobei natürlich auch Männer Opfer sein können.
Wenn nun eine Frau sich die Schilderung ihrer Schwester, ihres Bruders oder ihrer Freundin anhört, ist sie selbstverständlich persönlich betroffen. Sie liebt diese Menschen und will, dass so etwas möglichst nie mehr passiert. Wahrscheinlich berührt diese Schilderung auch eigene Wunden, die gar nicht sexuell motiviert sein müssen. Fast jeder von uns hat in seinem Leben schon mal körperliche Überlegenheit zu spüren bekommen.
Frauen solidarisieren sich also und das erklärt auch die Reaktionen, die du schilderst. Betroffenen fällt es oft schwer, sich öffentlich zu äußern oder sich in Diskussionen wie dieser zu beteiligen. Deshalb äußern sich Frauen wie ich, die quasi für die Opfer sprechen, zu denen sie eine sehr persönliche Beziehung haben.
Du siehst diese Reaktionen vorwiegend als (vermeintliche) Empathie, ich sehe da auch viel Zorn, Wut, Angst, Scham. Im Falle des Flugzeugsunglück habe ich auch erst über die Reaktionen gestaunt - ich verstehe deine Verblüffung und deine Abneigung. Wenn man sie aber als eine Reaktion auf Angst sieht, wird es wieder klarer, zumindest für mich. Es hätte niemand für möglich gehalten, dass ein Pilot so etwas macht und wie wird es sein, wenn man selbst dann demnächst im Flugzeug sitzt? Wenn man dort drin gesessen hätte?
Ich glaube, das sehr viele Reaktionen erklärlich und oft/immer in Bezug auf uns selbst zu verstehen sind.
Deshalb kann Empathie auch bedeuten: Einfach mal die Klappe halten.
Das sehe ich auch so. :)
@Barratt: ich glaube, Gomez meinte in Bezug auf die Opfer- und Täterrolle, dass es ein UNTERSCHIEDLICHES Ausmaß an Leiden gibt.
Liebe Chiarina, wir reden konstant von zwei verschiedenen Dingen: Du von der Überlegenheit des Sexualstraftäters gegenüber seinem Opfer, während seiner Tat und bis zu dem Zeitpunkt, an dem er unschädlich gemacht wird, für seine Opfer sogar noch über diese Zeit hinaus - ich von der objektiven Unterlegenheit eines Angeklagten bzw. verurteilten Straftäters vor den Blicken der Öffentlichkeit. Ich bitte Dich, das auseinanderzuhalten. Welche Perspektive nimmt die Öffentlichkeit gegenüber einem noch nicht mal rechtskräftig verurteilten Angeklagten ein? Neidvolles Heraufblicken?
Lieber Gomez,
wie gerade gegenüber Peter erwähnt, glaube ich, dass Frauen sich solidarisch verhalten, weil sie selbst betroffen sind, sei es durch eigene Erfahrungen oder durch Betroffene im engen Familien- und Freundeskreis.
Ich kann nachvollziehen, dass aus Tätersicht die Perspektive eine "von oben herab" ist und nicht eine aus der Defensive. Ich glaube aber, dass Frauen sich dieses früher fast selbstverständliche Nehmen des Überlegenen einfach nicht mehr gefallen lassen wollen. Das hat sehr individuelle Reaktionen zur Folge: die einen machen es unter sich aus, du sprichst von einem Mob ... .
Es ist richtig, dass wir in dieser Diskussion von zwei verschiedenen Dingen sprechen. Ich hatte dich nicht so verstanden, dass deine "Öffentlichkeit", der Mob, von dem du sprichst, die Opfer ausschließt. Ich wollte Gründe für das von dir beschriebene Verhalten nennen, um Verständnis zu wecken auch für Reaktionen in diesem Faden.
Was die Chance auf einen Neuanfang nach Absitzen der Strafe angeht: es ist tatsächlich schwierig. Ich sehe dabei einen Unterschied im Werk der betreffenden Person und in seiner beruflichen Position.
Ein Direktor einer Hochschule wie Mauser, der seine Funktion und berufliche Position missbraucht hat, um Frauen zu ge-brauchen, darf aus meiner Sicht diese Position nach Absitzen der Strafe nicht mehr innehaben. Wenn jemand seine Position und Funktion dazu benutzt hat, abhängige Frauen sexuell zu nötigen, kann er in der gleichen Position aus meiner Sicht nicht mehr arbeiten. Wie soll das gehen? Das Vertrauen ist dahin, vor allem, wenn keine Einsicht gezeigt wird. Aber natürlich ist das ein Widerspruch zum Neuanfang und einer Chance nach Absitzen der Strafe. Ich weiß nicht, wie man das lösen kann. Meinst du denn, jemand wie Mauser solle weiter auf seiner Position bleiben (abgesehen davon ist das auch kaum in die Tat umzusetzen, denn die Hochschule muss ja weiter geführt werden, während er im Gefängnis sitzt).
Aber seine Kompositionen oder Schriften sind meiner Meinung davon unabhängig. Sie behalten ihren Wert. Allerdings geht es auch um Geld und deshalb verlegt wahrscheinlich niemand mehr seine zukünftigen Werke - sie lassen sich nicht mehr verkaufen. Ich weiß nicht, ob das alles bei Mord o.ä. anders wäre. Auch hier weiß ich nicht, wie sich das lösen lässt.
Du ziehst ja andere Straftaten als Vergleich heran. Aber der Vergleich hinkt, denn 2018 z.B. gab es ganze
386 Mordopfer, aber
9324 erfasste Opfer von sexueller Nötigung und Vergewaltigung (wer weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist).
Männer in hohen Positionen wie z.B. Weinstein, die diese Position
vorsätzlich und über
lange Zeit missbrauchen, um Frauen zu missbrauchen, werden auch nach Absitzen der Strafe nicht mehr eine so hohe Position bekommen. Selbst Uli Hoeneß hatte Schwierigkeiten, obwohl es "nur" veruntreute Steuergelder waren. Er konnte nur deshalb wieder neu anfangen, weil er sich öffentlich ausführlich entschuldigt hatte.
Die beiden fett gedruckten Kriterien in Verbindung mit einer Tat, die so weit verbreitet in der Gesellschaft ist und lange "geduldet" wurde, werden ganz anders bewertet als eine einmalige Tat im Affekt. So sind die Reaktionen m.E zu erklären. Im Nachhinein werden die Werke sicher nicht ihren Wert verlieren. Je nachdem, wie viel Verantwortung die Täter für ihre Tat übernehmen, vielleicht auch eher.
Liebe Grüße
chiarina