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Erstere haben natürlich nicht ins Kontrapunkt-Lehrbuch geschaut und sich vergewissert, ob sie das so schreiben dürfen. Von letzterem wird hingegen erwartet, gewisse charakteristische Satzweisen der jeweiligen Epochen zu kennen, um dann zugunsten eigener Ideen bewusst ganz individuelle Wege zu gehen. Es geht nun mal nicht darum, ein vorgegebenes Regelwerk abzuarbeiten, sondern ein bestimmtes Gefüge von Konsonanz und Dissonanz, von Anspannung und Entspannung etc. herauszuarbeiten. Zu den frühen Entwicklungsstadien der Mehrstimmigkeit zählt nun mal das Parallelorganum mit Stimmabständen in perfekten Konsonanzen, in der Ars-Antiqua- und Ars-Nova-Zeit entwickelte sich zunehmend das Streben nach eigenständig geführten Stimmen heraus, das im Spätbarock (der Name Bachs ist ja schon gefallen) einen ausgewachsenen Reifegrad erreicht hat. Vor diesem Hintergrund wirkten Parallelen archaisch und stilfremd - wenn aber der Kontext ein solches Phänomen rechtfertigte, konnte man Bach keinerlei Berührungsängste nachsagen; gerade in den großen Passionswerken wird man an bestimmten Stellen fündig. Da aber die Satzübungen des "normalen Tonsatzschülers" den Nachweis einer gewissen Stilkenntnis zum Ziel haben, sollten Sonderfälle auch solche bleiben: Am besten unterlassen oder in einer geeigneten Weise deutlich machen, dass hier eine besondere Abweichung von irgendwelchen "Normen" vorsätzlich praktiziert wird. Dazu gehören auch unkonventionelle Stimmführungen, dissonante Spannungen und dergleichen mit Legitimation durch Besonderheiten in der Textvorlage.Bach und Beethoven dürfen das ja auch! =D Der normale Tonsatzschüler hat da schon größere Probleme, das zu begründen...;)
Bereits ab dem späten 19. Jahrhundert gab es bewusste Archaismen und Rückbezüge auf deutlich frühere Epochen, wie auch eine Emanzipation der Dissonanz kein neuzeitliches Phänomen ist, was jeder spätestens nach dem Hören eines Gesualdo-Satzes bestätigen darf...! Hauptmotiv ist demnach die Definition der eigenen stilistischen Orientierung und die Abgrenzung von anderen Epochen mit ihrer spezifischen Satzweise.
LG von Rheinkultur