Genau darum geht es mir, die ich diesen Faden eröffnet habe! Deshalb schlage ich vor, nicht mehr weiters über das Für und Wider von Ratio in der Musik zu debattieren, sondern den oben zitierten Ausschnitt mit Inhalt zu füllen. Meine Frage war schließlich nicht, ob es förderlich und empfehlenswert ist Musik zu verstehen (diese Frage habe ich für mich bereits beantwortet;)), sondern wie anhand von Beispielen so etwas aussehen könnte.
Den Begriff des "Verstehens" finde ich hier durchaus angemessen, weil er eben über die Ebene der reinen Betrachtung und Analyse hinausgeht.
Als ich meine Frage gestern ins Forum stellte, dachte ich an solche Schwierigkeiten, wo es eben enorm weiterhelfen kann, wenn man mehr sieht als nur einen Haufen Noten.
LG, Sesam
hallo,
schön zu sehen, dass ein "vernünftiger" Ton wieder einkehrt :) und der Vorschlag, an einem möglichst allseits bekanntem Werk sich der Frage bzw. ihrer Beantwortung aus mehreren Perspektiven zu nähern, ist im besten Sinne "vernünftig".
Leider kann ich zum Italienischen Konzert eigentlich nichts sagen: ich habe es weder je gespielt, noch je ganz angehört... mag schändlich sein, meinethalben auch ignorant, aber ich mag halt die meisten "Clavier"sachen von Bach nicht (zudem bin früher arg mit WTK etc gepeinigt worden... dennoch: mit das größte in der Musik überhaupt ist für mich die Bassaria "mache dich, mein Herze, rein" aus der Matthäuspassion).
Aber interessant vorab dürfte sein, sich bewußt zu machen, wie viel von dem, was man als ganz individuell zu empfinden glaubt, seine Ursache in den Gewohnheiten und Traditionen hat: wir alle (banal gesagt "abendländischen" Leutchen) sind quasi musikalisch sozialisiert. Denn wir nehmen zunächst mal Abweichungen von dem, was wir ganz natürlich als "normal" und "musikalisch" und "schön" empfinden, wahr:
wir stutzen, wenn
- eine Kadenz fehlt
- eine unerwartete "andere" Schlussformel verwendet wird (z.B. d-Moll - E-Dur am Ende der Walküre, a-Moll - F-Dur-H-Dur am Ende der Lisztsonate)
- wir völlig andere als die gewohnten Akkordverbindungen hören
- wir abweichende Rhythmus- oder Periodenbildungen hören (z.B. die asymetrischen Takte der griech., ungar., bulgar. Folklore - oder die berühmte 11-taktige Periode aus La Traviata)
- unsere Erwartungen nicht erfüllt werden: z.B. witzig-freches in Moll, oder bodenlos-trauriges in Dur
Die Liste kann erweitert werden, was aber gar nicht nötig ist, denn eines wird ja klar: wir haben Erwartungen an Musik, und unsere Erwartungen haben wir uns nicht alle selbst ausgesucht. Der Beweis ist verkürzt gesagt die erstaunte-verblüffte Wahrnehmung von Abweichungen (folglich ist kein Wunder, dass enigmatisch "andere" Musik seit sehr langer Zeit faszinierend oder verstörend wirkt, z.B. Prelude es-Moll oder Finale Sonate II von Chopin)
Flaubert wollte mal einen Roman ohne Handlung schreiben, was er aber nicht ausgeführt hat - Chopin hat mindestens zwei Klaviersachen ohne Melodie und ohne Begleitung (innerhalb der romantisch-virtuosen Klangsprache) geschrieben - - - das weist darauf hin, dass erstens Chopin sehr zu Hause war im kunsttheoretischen Kontext der "modernen" Romantik (etliche, die das nicht "verstanden", schimpften seine Sachen "ungesund, bizarr" (Rellstab) oder erklärten verständnislos "Musik ist das nicht") und zweitens, dass die Komponisten sich sämtlicher vorhandener "musikalischer Techniken" und damit der Möglichkeiten ihrer Erweiterung durch Veränderungen oder Abweichungen sehr bewusst waren.
Ich halte es für vernünftig, grundlegend sich der "Traditionen" bewusst zu sein und über das quasi "musiktechnische" Instrumentarium (nicht zu verechseln mit dem spieltechnischen) möglichst genau im Klaren zu sein.
Auf dieser Basis kann dann der subjektiv empfindende Part der Wahrnehmung und der quasi theoretisch-technische mit einbezogen werden - in diesem Sinne ist es ganz allgemein dem Verstehen von Musik dienlich, wenn man möglichst viel über Musik weiß.
Ob man z.B. den Mephisto-Walzer "versteht", wenn man nicht wahrzunehmen in der Lage ist, dass er eine exquisite komplexe Harmonik (Tristanharmonik) hat und dass er in Form einer einzigartigen Kette von dramatischen Doppelvariationen strukturiert ist (ein Thema "dominiert" das andere)? Genügt es, ihn "schön", "super", "effektvoll" oder "gut für die Technik und gut für ne Klaviershow" zu finden?
"Musik verstehen" hat ja das Ziel, Musik zu begreifen - dass man ein Kunstwerk freilich nie "100% begriffen" hat, liegt in der Natur des Gegenstands: ist es "fertig interpretiert", hört es auf als Kunstwerk weiter zu leben (denn dann ist es nicht mehr mit uns und wir nicht mehr mit ihm Dialog)
Musik verstehen wird also ein beständiges Lernen sein!
ok, so weit mal ein paar Grundlagen, bevor es ans "ganz konkrete Exempel" geht.
liebe Grüße,
Rolf
(...nur so ein Vorschlag: könnte man sich statt auf Bach auf was romantisches oder spätromantisches einigen? dann könnte ich mitreden, bei Bach könnte ich nur mitlesen...)