Die (fast) vergessenen Chor-Transkriptionen
Der Zyklus enthält insgesamt vier Transkriptionen von Chorwerken. Neben der Miserere möchte ich hier auf die Liszt-Transkriptionen eigener Werke eingehen.
Ave Maria
Liszt schrieb eine Vielzahl von Vertonungen des „Ave Marias“, allein sechs für Klavier. Aufgrund seiner Marienverehrung wundert es nicht, dass eine Version auch in diesen Zyklus aufgenommen wurde. Liszt schrieb die Version, die dieser Transkription zugrunde liegt ca. 1852 für vierstimmigen Chor und Orgel, damit ist dies das späteste Werk, dass Einzug in den Zyklus fand. Im Gegensatz zur Chorfassung, wurde die Klavierfassung um einen halben Ton von A-dur nach B-dur transponiert, folgt ihr aber sonst originalgetreu. Liszt hält das Stück eher schlicht und einfach, fast ehrfurchtsvoll. Das „Ave Maria“ beginnt mit repetierten Oktaven im Sopran, wechselgesangartigen Rezitativen, vollen Akkorden die oft arpeggiert sind und einer schlichten, aber dennoch rührenden, diatonischen Melodie. Über den Noten steht der lateinische Text des Gebets „Ave Maria, gratia plena…“. Liszt wiederholt die Melodie in h-moll und Es-dur bevor er zur Tonika zurückkehrt. Das Stück endet mit einer fragmentierten Coda und verklingt in einer einzigen, unbegleiteten Linie.
Hier das Original:
„Ave Maria"
Und hier die Transkription:
2. Ave Maria
Pater noster
Liszt schrieb zwei Vertonungen des „Pater noster“, die hier verwendete ca.1846 für Männer-Chor und Orgelbegleitung. Auch diese Bearbeitung ist äußerst schlicht gehalten, folgt der Vorlage Originalgetreu und verzichtet auf jeglichen Prunk und Verzierungen. Über den Noten steht wieder der lateinische Text „Pater noster, qui es in caelis…“.
Hier das Original (fast zumindest):
„Pater Noster"
Und hier die Transkription:
5. Pater noster
Hymne de l’Enfant à son réveil (Hymne des Kindes – Bei seinem Erwachen)
Zwischen 1840 und 1844 schrieb Liszt das Werk „Hymne de l’Enfant à son réveil“ für Frauenstimmen, Klavier und Harfe. Grundlage dieses Stücks ist das gleichnamige Gedicht (eher Gebet) von Lamartine, dessen siebente Harmonie. Liszt ließ seine beiden Töchter Cosima und Blandine dieses Gedicht als Morgengebet sprechen. Über dem ganzen Stück schwebt eine Art Heiligenschein: die Weihe kindlich frommer Einfallt und Gläubigkeit.
Hymne des Kindes – Bei seinem Erwachen
Du lieber Himmelsvater, welchen man
Nur knieend nennt, zu dem mein Vater fleht,
Vor dessen Namens wundervollem Klang,
Furchtbar und sanft, mein frommes Mütterlein
Ihr schönes Haupt zur Erde niederbeugt:
Die Leute sagen, daß in Deiner Hand
Der Sonne Feuerglanz nur Spielwerk sei;
Daß sie zu Deinen Füßen schwebend hängt,
Wie in der Stube uns’re gold’ne Lampe.
Daß Du die kleinen Böglein auf dem Feld
Läß’st wachsen, und den kleinen Kindern gibst
Auch eine Seele, um Dich recht zu kennen.
Dann sagen sie, Du habest meine Blumen,
Die in dem Garten bunt und farbig blüh’n,
Geschaffen, und wenn Du nicht wärest, sei’n
Die Bäume immer geißig, hätten nie
So voll mit süßen Früchten sich geschmückt.
So scheint es, ist die ganze Welt Dein Gast
Bei den Geschenken Deiner güt’gen Huld.
Und bei dem großen Feste der Natur
Vergiß’st Du nicht das kleinste Käferchen.
Am Quendel naget dort mein Lamm, die Ziege
Sucht sich den Geisklee, am Gefäßes Rand
Seh’ ich die Tropfen meiner fetten Milch
Die Fliegen naschen; von dem bittern Kern,
Der bei dem Aehrenlesen sich verlor,
Nährt sich die Lerche; bis zur Scheune hüpft
Der kecke Sperling, wo mit kräft’gem Arm
Das Korn geschwungen wird: und an die Mutter,
Die gern alles sorgt, schmiegt sich das Kind.
Was aber muss man thun, um jegliches
Geschenk, das Du mit jedem neuen Tag
Am Morgen, Mittag, Abend über uns
Ausgießest, zu erhalten? – Im Gebet
Dich nennen! O, Du lieber Gott! Ich kann
Den heiligen Namen, den die Engel scheu’n,
Nur schüchtern stammeln, doch durch den Gesang
Der Himmelschöre, die Dich preisen, hörst
Du selbst ein Kind. Und auch der Vater hat
Mir schon gesagt, von Kindern ließest Du
Dir gern erzählen, was ihr Herz begehrt,
Unschuldig seien; und ihr stilles Lob
Gefiele besser deinem Ohr, als wenn
Die Engel deines Himmels deine Macht
Und Herrlichkeit verkünde; aber wir
Sei’n auch den schönen Engeln gar so gleich!
Ach! wenn er in der weiten Ferne hört
Die Wünsche aus dem tiefen Herzensgrund,
So will ich unaufhörlich zu Ihm fleh’n
Um alles, was den andern nöthig ist.
Gib, lieber Gott, den Brunnen klares Wasser;
Dem Sperling Federn; meinen Lämmern Wolle;
Den Feldern Thau und Schatten; Kranken gib
Gesundheit; Brod dem Armen, der’s mit Thränen
Erbittet; jenem bleichen Waisenkind
Gib eine Wohnung; dem Gefangenen Freiheit!
Dem gottesfürcht’gen Vater, lieber Gott!
Recht viele gute Kinder; schenke mir
Verstand, und laß mir’s immer wohl ergeh’n,
Damit die Mutter froh und glücklich ist!
Laß fromm und gut mich werden, bin ich gleich
Noch klein, wie’s jenes Kind im Tempel war,
Das ich am Fuße meines Bett’s so gern
Mit jedem Morgen neu betrachte, weil
Sein Aug’ so freundlich lächelnd auf mich sieht.
Mach meine Seele rein, vom Unrecht frei;
In meinem Herzen, furchtsam und gelehrig,
Laß reifen und gedeih’n dein heil’ges Wort!
Und wie geweihter, milder Opferrauch,
Aufsteigend aus dem duftenden Gefäß,
Von Kindeshänden, meinen gleich, geschwungen,
Erhebe sich zu dir mein frommes Fleh’n!
Ebenso, wie Liszt oft die Virtuosität als Form des musikalischen Ausdrucks nutzt, so ist es hier, wie in den anderen beiden Bearbeitungen, die Einfachheit und der Verzicht auf jegliche Virtuosität die er als Ausdrucksmittel verwendet.
Wer mag, kann sich hier auch das gerade zu himmlische Original anhören:
Hymne de l’Enfant à son réveil S.19
Und hier die Transkription:
6. Hymne de l’enfant à son réveil
Leider führen diese drei Stücke, ebenso wie ihre Chor-Originale und dem Großteil von Liszts geistlichen Chor-Werken ein absolutes Schattendasein. Wären sie nicht in diesem Zyklus vorhanden, würden sie wohl völlig der Vergessenheit angehören. Ob das an dem völligen Fehlen von typischen virtuosen Liszt-Elementen, dem religiösen Inhalt oder generell an der schlichten Einfachheit liegt kann ich nicht sagen. Jedem, der vielleicht ein Liszt-Stück spielen möchten, das ohne große Virtuosität auskommt und trotzdem musikalisch interessant ist, möchte ich diese Stücke ans Herz legen.
Viele Grüße!