Lieber Oliveto, liebe Klavieroma,
ihr sprecht da ein sehr wichtiges Thema an mit der Konzentration!
Das Phänomen, dass Gedanken abschweifen, sich quasi das "Gehirn entspannt", ist ganz natürlich - das kommt jedem bei allen in irgendeiner Art automatisierten Vorgängen vor: Beim Autofahren denkst du ja auch nicht jede Sekunde daran, wo du gerade genau bist, wie schnell du fährst, wie sich deine Geschwindigkeit verändert, wenn du den Berg gleich hochfahren wirst und wie du schalten musst. Warum? Weil der Vorgang des Fahrens so stark automatisiert ist, dass er ganz natürlich funktioniert und nicht mehr darüber nachgedacht werden muss, WIE man fährt. Konzentration braucht man natürlich, wenn man in dichtem Verkehr fährt oder man jederzeit mit einem hereinlaufenden Kind rechnen muss o.ä.
Da das Klavierspielen zu einem Teil auch automatisiert ist, passiert uns das beim Üben oder Spielen durchaus auch mal, dass das Hirn abschaltet und auf "Automatik" stellt - wenn wir ein Stück nur mal gut genug können, so spielt unser Spielapparat teilweise auch "von alleine" und das ist auch ein nicht zu vernachlässigender, durchaus auch wichtiger Teil des Spiels. Wollen wir allerdings genaue Klangkontrolle und beim Üben vorankommen, so ist diese Konzentration, die ihr absolut zu recht sucht und die jeder sucht, unabdingbar. Vergleichbar ist es vielleicht mit einem Rennfahrer, der in jedem Moment seiner Fahrt wahrscheinlich höchst konzentriert sein muss, um jede Kurve, jede Lenkbewegung optimal zu gestalten und auf alles, was passiert, gefasst zu sein und darauf schnell reagieren zu können. Außerdem ist der Automatismus zwar gut und schön, aber teilweise auch ganz schön gefährlich: Wenn man zuhause spielt, läuft es von alleine und wenn man dann in der Auftrittssituation angespannt ist, kann er ganz empfindlich gestört sein bis hin zum totalen Blackout. Daran merkt man dann, dass man vieles zwar im Greifgedächtnis automatisiert hatte, aber nicht mehr bewusst im Kopf hatte. Daher ist es meiner Ansicht nach extrem wichtig, beide Komponenten von Gedächtnis miteinander zu verknüpfen und da spielt unsere Konzentration beim Üben und Vorspiel eine enorme Rolle.
Das Hirn erlaubt sich meiner Beobachtung nach dann eine Erholungspause und schaltet in den bereits gelernten Automatismus, wenn es keine ausreichende Aufgabe erhält. Also ist die Lösung, es jederzeit beschäftigt zu halten. Das ist wirklich anstrengend (und ich bewundere die Leute, die es schaffen, 12 Std. am Tag auf diese Art zu üben...), aber man kann es lernen. Wie schafft man es nun, das Hirn so (sinnvoll!) beschäftigt zu halten, dass die Konzentration im Stück bleibt und nicht abschweift?
Beim Üben zwei Dinge: (Noten-)Text und Klang! Im Vorspiel: Komplette Konzentration auf den Klang - der Text muss bis dahin sicher sein. Wenn man weiß, dass man an einer Stelle oft unsicher ist, kann man für einen Moment etwas von der Aufmerksamkeit vom Klang abziehen und in den Text stecken, aber direkt danach wieder alles zurück zum Klang.
Idealerweise kann man Text und Klang gleichzeitig kontrollieren - da es aber in der Praxis oft überfordert, alles gleichzeitig zu beobachten, müssen wir oft unsere Aufmerksamkeit beim Üben auf einen Parameter konzentrieren und erst am Ende alles zusammenführen. Daher jetzt erstmal die Aufteilung in Text und Klang (wobei man bereits beim reinen Text zumindest versuchen sollte, die Musik dabei nicht zu vergessen, sondern schon mit zu beachten, ob man irgendwo hinspielt oder irgendwo wegspielt usw. Hauptkonzentration aber auf dem Text!).
Text: Überlege dir einmal, ob du jede x-beliebige Stelle aus deinem Stück so genau weißt, dass du sie aufschreiben könntest. Wahrscheinlich nicht. Wenn doch, so kannst du diesen Teil überspringen und alle Aufmerksamkeit dem Klang widmen.
--> Beim Üben extrem langsam spielen, so langsam, dass die Finger keine Chance haben, durch Automatismus den nächsten Ton/Akkord zu finden und dass der Kopf gezwungen ist zu wissen, was kommt. Das kann man durchaus rechts und links erst einmal einzeln machen. Wenn man das ordentlich macht, wird man feststellen, wieviel man da eigentlich zu tun hat und dass man wirklich SEHR langsam spielen muss, um den Kopf nicht zu überfordern. Alles muss bewusst durchdacht sein, jeder einzelne Ton muss vorgefühlt werden. Wenn man dann re und li zusammenspielt, würde ich (immer noch extrem langsam, um jeden Automatismus zu vermeiden!) danach einen Durchgang machen, in dem man nur auf die rechte Hand achtet, links aber dazu spielt (man hat es sich ja gerade eben einzeln schon bewusst gemacht - nun geht es darum, im Zusammenspiel, gezielt die Konzentration auf eine Stimme bzw. Hand lenken zu können, ohne dabei die andere zu irritieren). Schaffst du es immer noch, jeden Ton vorzudenken, vorzuspüren? Wenn nicht, nochmal. Wenn es gar nicht klappen mag, dann hast du den Schritt re + li einzeln noch nicht ordentlich geübt. Danach dasselbe Spiel mit der linken Hand. (Bei polyphonen Sachen natürlich nicht nach Händen, sondern nach Stimmen aufteilen!)
Wenn man mit dem reinen Text durch ist, kann man den Klang hinzunehmen.
(Wie gesagt würde man idealerweise Text und Klang gleichzeitig beobachten - reiner Text ohne Musik ist recht sinnlos - aber da muss man eben schauen, was das Hirn noch mitmacht, wenn der Hauptfokus am Anfang auf dem Text liegt. Je besser man ein Stück kann, desto mehr kann man natürlich die Aufmerksamkeit auf den Klang legen. Es schadet aber nichts, immer mal wieder solchte Textbewusstwerdungsdurchgänge zu machen, wie ich gerade auch wieder feststelle... ;))
Klang:
Genau da kommt nun meiner Erfahrung nach GANZ GENAU das ins Spiel, was Hasenbein meiner Ansicht nach ganz hervorragend beschrieben hat! Man hat eigentlich nicht zu wenig zu tun, beim Spielen, sondern man hat die für mich erstaunlich komplexe Leistung zu vollbringen, die einzelnen Klangschichten sowohl kontrollieren, als auch als Gesamtklang wahrnehmen und gestalten zu können. Konkret geht es nicht um Einzeltöne oder Akkorde, sondern um die Verknüpfung derer. Das klingt so trivial und ist in der Praxis die allerhöchste Kunst: die Töne richtig und schlüssig aneinander anzuschließen. Man wird nie ein Stück zweimal genau gleich spielen, insofern muss man jederzeit genau hinhören, wie sich der gerade ausbreitende Klang entwickelt, um in dieser konkreten Spielsituation den nächsten Ton, den nächsten Akkord richtig daran anschließen zu können. Es ist, wenn man so will, ein sehr lokales Prinzip: An einem bestimmten Punkt muss man nicht nur den Punkt selbst höchst differenziert wahrnehmen, sondern auch ein klitzekleines bisschen in die Zukunft schauen ausgehend von dem, was genau jetzt im Moment an Klang vorhanden ist, um den Klang weiter richtig zu gestalten.
In dem Sinne finde ich, sind die beiden Themen der Konzentration und der Klangerzeugung unweigerlich miteinander verknüpft: Wenn man versucht, die Klangvorstellung umzusetzen, wozu man ganz genau hinhören muss, dann ist der Kopf sehr wohl so beschäftigt, dass er nicht abschweifen kann. Daher ist auch die Frage sehr berechtigt, wie man einen bereits liegenden Ton "gestaltet" bzw. wie man damit umgeht. Auch wenn man einen liegenden Ton (fast!) nicht mehr beeinflussen kann, so hört man GANZ GENAU den Unterschied, ob der Spielende diesen Ton weitergedacht hat und den nächsten daran anschließt oder nicht! Das ist eine ganz große Kunst, das ordentlich zu machen. Es sind meiner Meinung nach nicht die schnellen Läufe, die die musikalisch Schwierigkeiten bereiten, sondern musikalisch viel anspruchsvoller sind liegende Töne.
Ich habe unten einmal zwei Beispiele angehängt aus der Pastoralsonate von Beethoven, die mich gerade beschäftigt.
Bsp.1: Der Anfang, so einfach wie er vom Text her ist, nötigt mir hohe Konzentration für die Klanggestaltung ab, wenn ich es wirklich gut spielen möchte. Da sind mehrere Klangschichen, die in sich logisch gestaltet werden wollen und man muss die Melodie in der rechten Hand SO gut durchhören, um die Akkorde so anschließen zu können, dass sich daraus eine Melodielinie ergibt und nicht mehrere aufeinanderfolgende unverbundene Akkorde. Zusätzlich gibt es die Linie in der linken Hand, die durchgehört werde möchte, darüber hinaus den Orgelpunkt d, der da liegen soll wie ein Teppich und am besten so gespielt werden sollte, dass der Zuhörer es zwar unterbewusst wahrnimmt, dass da ein d die ganze Zeit repetiert wird, aber so unauffällig, dass es ihm gar nicht groß bewusst auffällt, ganz nebenbei noch die Zwischenstimmen.
Beispiel 2: ebenfalls direkt am Anfang des 1.Satzes: Da steht sogar "cresc." auf einem liegenden Akkord. Klar ist gemeint, dass es sich auch auf die danach folgenden Töne bezieht. Aber man stelle sich vor, wie dies bsp.weise ein Bläser, ein Streicher oder ein Sänger musizieren würde: Der erste Ton würde leise angesetzt werden, würde danach ein crescendo erfahren, aus dem der nächste logisch angeschlossen wird. Ja und nun mach das mal auf dem Klavier... Sicher kann man kein crescendo auf dem liegenden Ton erzeugen. Viel schlimmer noch: Der Ton wird verklingen, man muss den nächsten logisch anschließen, also eher noch leiser als der erste war als er angeschlagen wurde - aber man soll cresc. hören. Man kann es in der Tat trotzdem so durchhören und Spannung aufbauen, die den nächsten Ton so anschließt, dass man meinen möge, es hätte ein cresc. stattgefunden. Es ist sehr schwer zu erklären und ich entschuldige mich schonmal jetzt dafür, wenn das, was ich gerade geschrieben habe, absolut unverständlich war - aber jedenfalls sind genau solche Dinge die Dinge, die all unsere Konzentration beim Spielen erfordern; dann hat der Kopf keine Zeit mehr abzuschweifen.
Insofern hat Hasenbein goldene Worte geschrieben, für die ich ihm danken möchte - darüber lohnt es sich SEHR nachzudenken und nachzuhören - es ist genau das der Punkt, wie man die Konzentration beim Stück behält, jeden Moment!
Liebe Grüße,
Partita