Interessantes Experiment mit Joshua Bell

C

Chopinne

Guest
Einige hier werden es sicher kennen: Der weltberühmte Violinist hat sich vor einigen Jahren als "Straßenmusiker" in die Unterführung einer U-Bahn gestellt und eine dreiviertel Stunde großteils hochvirtuose Klassik gespielt.
Ich bin jetzt erst darauf gestoßen und dachte, ich teile den Artikel mal.

https://www.washingtonpost.com/life...6d46da-4331-11e4-b47c-f5889e061e5f_story.html

Und für alle, die lieber auf Deutsch lesen (auch, wenn da einiges weggelassen wurde):
http://www.sueddeutsche.de/kultur/klassik-in-der-u-bahn-kleingeld-fuer-den-star-1.801038

Im englischsprachigen Artikel wird dabei eine sehr interessante Frage aufgeworfen und diskutiert (s. unten). Man darf natürlich die Rahmenbedingungen des Experiments - in der Metro, die Menschen haben andere Dinge im Kopf - nicht außer Acht lassen (vgl. Kant: "immediate state of mind of the observer"). Aber dennoch hätte ich vermutet, dass unter den über 1000 Passanten zumindest ein oder zwei gewesen wären, die erkannt hätten, welch herausragendes Niveau die Darbietung hat - und zwar ungeachtet des Settings und der Unscheinbarkeit des Interpreten. Die Washington Post schreibt:

IF A GREAT MUSICIAN PLAYS GREAT MUSIC BUT NO ONE HEARS . . . WAS HE REALLY ANY GOOD?


It’s an old epistemological debate, older, actually, than the koan about the tree in the forest. Plato weighed in on it, and philosophers for two millennia afterward: What is beauty? Is it a measurable fact (Gottfried Leibniz), or merely an opinion (David Hume), or is it a little of each, colored by the immediate state of mind of the observer (Immanuel Kant)?



Viele Grüße!
 
Ich würde LL sofort erkennen, wenn er verkleidet in der Kölner Schildergasse auf 'nem Akkordeon spielt. Und David Garrett würde ich auch erkennen, aber nicht Joshua Bell.

CW
 
Nun, Kleider machen eben Leute, hier in umgekehrter Weise, und das wirkt offenbar mehr als die Kunst.
Nimm einen mittelguten Musiker in schicker Kleidung und gediegenem Ambiente, werden viele Zuhörer des Lobes voll sein (Halo-Effekt, eine positive Eigenschaft überstrahlt andere, nach dem Motto, sieht super aus, ist bestimmt auch nett und kann gut spielen).
 
Ich finde die Schlussfolgerung falsch. Dass keiner stehenbleibt heißt doch in 1000 Jahren nicht, dass es keinem gefallen hat, noch, dass keiner die Qualität der Musik bemerkt bzw. erkannt hat. Mir geht es jedenfalls immer wieder mal so, dass ich sehr gute Straßenkünstler sehe / höre und trotzdem nicht stehen bleibe, weil ich einen Termin habe oder weil ich gerade nicht aufnahmefänig für diese Kunst bin, egal, wie gut sie auch sein mag.
 
Ich finde die Schlussfolgerung falsch. Dass keiner stehenbleibt heißt doch in 1000 Jahren nicht, dass es keinem gefallen hat, noch, dass keiner die Qualität der Musik bemerkt bzw. erkannt hat. Mir geht es jedenfalls immer wieder mal so, dass ich sehr gute Straßenkünstler sehe / höre und trotzdem nicht stehen bleibe, weil ich einen Termin habe oder weil ich gerade nicht aufnahmefänig für diese Kunst bin, egal, wie gut sie auch sein mag.

Daher ja auch meine Anmerkung: "Man darf natürlich die Rahmenbedingungen des Experiments - in der Metro, die Menschen haben andere Dinge im Kopf - nicht außer Acht lassen (vgl. Kant: "immediate state of mind of the observer")". Aber zumindest umsehen würde ich mich auf jeden Fall nach jemandem, der auf einem Staßenklavier eine Chopin Ballade oder Liszt Etüde dahinzaubert, allemal - egal, wie gestresst ich bin. Und die Leute im Experiment haben ja nicht mal das getan. Interessant ist aber auch, dass die wenigen, die stehen geblieben sind, das aufgrund von Intuition getan haben (sie wurden interviewt und es war bei den meisten wenig bis keine musikalische Vorbildung im Bereich Klassik vorhanden). Das spricht mMn wieder für die Qualität des Vortrags - es bedeutet, dass sie nicht durch den Reflex "sauschweres Stück, der MUSS was können!" oder gar durch missgünstiges Warten auf Patzer (oft unter Berufsmusikern untereinander zu beobachten) dazu animiert wurden.

Ich wollte gar keine Schlussfolgerung ziehen - nur eben diesen Artikel und die Fragestellung aus der Washington Postin den Raum stellen. :)
 
Du scheinst einen seltsamen Umgang zu haben. Solche Berufsmusiker sind mir nämlich noch nie begegnet, und ich kenne wirklich sehr viele.

Habe auf diesen Kommentar gewartet und überlegt, ob ich den Satz wirklich schreiben soll - mich aber dann doch dafür entschieden, weil es eben meine Erfahrung ist. ;) Ich denke, dieser "Beißreflex" ist eher bei denen ausgeprägt, die es nicht so weit nach oben geschafft haben, wie sie es sich erträumt haben (und bei denen sich daher auch Frustration angestaut hat; führt häufig zu Missgunst). Du musst da schon unterscheiden zwischen Leuten, die vielleicht mal von der großen Solokarriere geträumt haben und sich nun mit Unterrichten über Wasser halten müssen (jaaa, es gibt auch welche, die es gern tun - von denen rede ich nun nicht) und anderen, die von Anfang an realistisch waren oder sich ihren Traum zum Teil sogar erfüllen können.
Natürlich können die meisten Berufsmusiker sich an der guten Performance eines Kollegen erfreuen - vor allem, wenn sie selbst sehr gut spielen. Das soll auch gar nicht das Thema sein; ich kenne übrigens beide "Sorten" von Berufsmusikern. Und "seltsamen" Umgang habe ich ganz sicher nicht - im Gegenteil bereichert er mich sehr und "kennen" in Bezug auf missgünstige Menschen bedeutet auch noch nicht, dass ich mit ihnen befreundet wäre.
 
Das Problem dürfte die Location sein: was unter freiem Himmel vielleicht nett anzuhören ist, kann in einem halligen U-Bahngang schon an Körperverletzung grenzen - und es gibt keine Möglichkeit auszuweichen. Zudem laden diese Gänge nicht gerade zum Verweilen ein, jedenfalls nicht bei dem Publikum, das in der Regel auf klassische Musik anspricht. Von daher halte ich die Versuchsanordnung schon für tendenziös.

Dieselbe Performance in einer anderen Umgebung könnte anderes zutage fördern. Aber auch da vermute ich: in einer Fußgängerzone, wo das Publikum Hollister-, H&M- oder Kult-affin ist, hätte ein Joshua Bell ebenfalls schlechte Karten (es sei denn, er Stiege auf Singende Säge, Steeldrums oder änliche Akustische Zumutungen um).
 
...wenn ich in einer depperten S- oder U-Bahnunterführung von Gleis 3 zu Gleis 12 hechele, weil ich auf Gleis 12 meine scheiß Bahn erreichen will, dann mag in der Unterführung meinetwegen Karajan mit Chor und Orchester "Freude schöner Götterfunken" tirilieren, ich werde ihm nicht zuhören, weil ich meine S- oder U-Bahn erwischen will - und wenn da ein Orchester nebst Chor die Unterführung unpassierbar machen würde, dann wäre meine Reaktion auf den überkandidelten Scheiß sehr sehr unfreundlich...
 

Ich finde die Schlussfolgerung falsch. Dass keiner stehenbleibt heißt doch in 1000 Jahren nicht, dass es keinem gefallen hat, noch, dass keiner die Qualität der Musik bemerkt bzw. erkannt hat. Mir geht es jedenfalls immer wieder mal so, dass ich sehr gute Straßenkünstler sehe / höre und trotzdem nicht stehen bleibe, weil ich einen Termin habe oder weil ich gerade nicht aufnahmefänig für diese Kunst bin, egal, wie gut sie auch sein mag.
Schnap dir ein Miniklavier und mach das

Jon Batiste und Stay Human 2011 noch während ihrer Studienzeit in Juilliard.

@rolf also lädst du demnächst den Chor in den Zug mit ein ;)


View: https://www.youtube.com/watch?v=GF_aTHpDYE8

Ähnliches machen sie immer noch


View: https://www.youtube.com/watch?v=dlxXCBPBnus



View: https://www.youtube.com/watch?v=V-KO8bRYkvY


Wenn mir ein fantastischer Musiker begegnen würde, bliebe ich selbstverständlich stehen, außer es wäre wirklich sehr starker Zeitdruck.



 
Zuletzt bearbeitet:
In der Bahn wird man dauernd zur Kunst gezwungen, denn man kann ja nicht weg. Meistens sind es (Break-)Dancer, die oft gut, manchmal langweilig und mitunter hervorragend gut sind. Allerdings ist die Musik dazu immer viel zu laut und außerdem ist man nicht immer empfänglich für sowas, wie gesagt. Musiker sind es auch immer mal, ebenfalls gemischtes Niveau, außerdem Komedians, häufig Bettler / Obdachlose und manchmal Prediger.
In den Stationen ist sowieso immer die Hölle los, da tanzen sie auch, singen, spielen, manchmal mega verrückt:

View: https://www.youtube.com/watch?v=T9v1DUC7i3U
watch
 
Ich denke das gute bis im obigen Fall sogar sehr gute Straßenkünstler einfach auch viel weniger auffallen als Schlechte.

Wenn ich durch die Stadt laufe oder zur U-Bahn dann denke ich an mein nächstes Ziel, was ich noch alles einkaufen will, ob ich pünktlich da oder dort ankomme etc.
Passiere ich einen schlechten Straßenkünstler (bei uns meist Sänger und Gitarristen) so reißen mich schiefe Töne, grauslich unrhythmisches Spiel oder ein ungestimmtes Instrument gerne mal unsanft aus meinen Gedankengängen.

Von guter Musik (im Sinne von einigermaßen gut gespielt) ist man ja hingegen häufig umgeben, gewollt und ungewollt. Das gedankliche ausblenden davon (Kaufhausmusik etc) ist für mich normal.
Da haut es mich dann weniger aus meinen Gedanken raus, wenn ein Straßenkünstler gut ist... so traurig das klingt.
 

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