Na jetzt wird´s ja so richtig theoretisch. Aber gut, ihr habt es ja so gewollt :D
Anbei eine Grafik des Inharmonizitätsmodells von der Stimmsoftware Verituner. A4 entspricht unserem eingestrichenem A, also Kammerton. Der erste Teilton (TT) vom A4 hat 440 Hz, und das ist in der Tat der einzige TT, den Verituner als korrekt annimmt, quasi der Referenzton für alle weitere Überlegungen. In diesem Modell ist nicht nur die temperierte Stimmung, sondern auch schon eine gewisse Streckung mit eingerechnet. Z.B. hat der erste TT vom A3 nicht 220 Hz, sondern ca. 219,75. In der dazugehörigen Tabelle steht, dass der erste TT von A3 um 1,88 Cent von dem theoretischen Wert abweicht. Dieser theoretische Wert hat wie gesagt eine gewisse Streckung schon einbezogen, deswegen auch nicht 220 Hz sondern ca. 219,75 Hz.
Die Grafik liest man so:
Betrachtet man z.B. nur A4, so zeigen die Messreihen 1 bis 12 die Abweichungen vom theoretischen Wert in Cent. Wie erwähnt ist lediglich der erste TT von A4 korrekt, daher 0 Cent Abweichung. Der 2. TT weicht um 1,5 Cent ab, der 3. TT um 4 Cent usw. Da Verituner für A4 nur den ersten bis achten TT misst, sind auch nur diese Werte dargestellt. Welche TT Verituner misst, hängt von dem Tastaturbereich ab. So wird ganz unten im Bass nur der sechste bis zwölfte TT gemessen, ab dem A1 dann der dritte bis zehnte TT usw. Das hängt damit zusammen, dass Verituner für die Oktaven gewisse Vorgaben hat: er stimmt im tiefsten Bass u.a. eine 6:3 Oktave. Soll bedeuten, er bringt den 6. TT vom A0 mit dem 3. TT vom A1 in Übereinstimmung. Im Gegensatz zu Tunelab oder Cybertuner bringt Verituner allerdings noch mehrere TT-Pärchen in Übereinstimmung, z.B. im tiefsten Bass noch 8:4 und was noch alles mit den gegebenen Messwerten möglich ist. Im Prinzip also genau das, was ein Stimmer nach Gehör auch tut. Der Stimmer achtet im Normalfall ja auch nicht bloß auf ein einziges TT-Pärchen, sondern versucht, die Schwebungen insgesamt zu minimieren. Also eine holistische Herangehensweise, anstelle von dem "single-partial-matching".
Alles kapiert und ihr könnt die Grafik lesen? Fein, denn jetzt wird es spannend. Als zweite Grafik die tatsächlich gemessenen Inharmonizitätswerte eines Steinway Z Klaviers. Besser gesagt: nicht die Inharmonizitätswerte, sondern die Abweichungen von den theoretischen Werten. Die originalen Inharmonizitätswerte gibt Verituner leider nicht preis. Aber schon interessant, die Unterschiede zwischen dem Modell und einem echten Klavier mit großer Inharmonizität zu sehen. Die Werte von dem Modell habe ich Verituner übrigens folgendermaßen entlockt: einfach eine neue Datei aufgemacht und keine einzige Messung vorgenommen, sondern die Abweichungstabelle einfach nackig exportiert.
Interessant ist übrigens auch, wie die Amerikaner mit dieser ganzen Theorie umgehen. Die reden den ganzen Tag von nichts anderem :( Da wird dann über 6:3 gegenüber 4:2 Oktaven gefachsimpelt bis sich die Balken biegen. Und auch deren Prüfung für die Mitgliedschaft in ihrer Gilde läuft so ab, dass dieses "single-partial-matching" gemessen wird. Hier in Deutschland kräht doch kein Hahn danach. Und bevor die ganzen Stimmgeräte auf den Markt kamen, haben vermutlich auch die Amis nicht so viel darüber nachgedacht. Mal sehen, was hier in Deutschland passiert, wenn die Stimmgeräte eine viel größere Verbreitung finden.