Lieber mick,
vielen Dank für Deine ausführliche Rückmeldung! Zum Glück hast Du Deine Zweifel überwunden. Man sollte beim Einstellen einer Aufnahme immer explizit um Kritik (ich mache das eigentlich immer) bitten, denn sonst würden aus vermeintlicher Rücksichtnahme gerade die interessantesten Beiträge ausbleiben! (und das Alter sollte sowieso keine Rolle spielen, das zeigen Du und andere hier im Forum ja regelmäßig). Also, das nur dazu!
Klasse, dass Du die Partita schon im Steinwayhaus München gespielt hast. Ich war dort bisher nur einmal als Zuhörer.
Über einige der von Dir angesprochenen Punkte habe ich mir, gemeinsam mit meinem Lehrer, viele Gedanken gemacht. Das folgende bitte nicht als "Verteidigung" missverstehen; ich möchte nur beschreiben, warum ich mich (vorerst) so entschieden hatte wie auf der Aufnahme.
Die Sinfonia ist eine typische französische Ouvertüre, mit einem eingeschobenen Zwischensatz (andante). Im einleitenden Grave-Teil sind die scharfen Punktierungen charakteristisch für den französischen Stil. Die finde ich bei dir viel zu weich gespielt - und vor allem spielst du die auftaktigen 16tel wirklich als 16tel. Die müssen aber genauso kurz sein, wie die 32tel. Die erste Pause im Stück muss also eigentlich als punktierte 16tel, die erste 16tel dann als 32tel gespielt werden. Das ist im französischen Stil eine wichtige Konvention - es wurde nur einfacher notiert, weil es damals noch keine Doppelpunktierungen gab.
Die Entscheidung, den Rhythmus (für Leute, die das Stück nicht so gut kennen, siehe Anhang) nicht gemäß dieser mir bekannten Konvention zu verschärfen war eine ganz bewusste (damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass sie auch sinnvoll ist). Die Gründe: (1) Wir haben hier notierte 16tel und notierte 32tel. Wenn man die auftaktigen 16tel auch als 32tel spielt, wird dieser notierte Unterschied eingeebnet und die Einleitung rhythmisch zu monoton. (2) Durch die Verschärfung der 16tel bekommt die darauffolgende Zeit (im 1. Takt z.B. "2+" und "4+") außerdem von selbst ein etwas stärkeres Gewicht, was ich aber mitten in der Phrase gar nicht haben möchte (das erste Ziel ist ja nicht die "2+", sondern die "3", und nicht die "4+", sondern die "1" von Takt 2, mit Fortsetzung zur "3"). Das sind natürlich nur Nuancen, aber wir fanden die Verschärfung an dieser Stelle auch aus diesem Grund eher störend (bei einem anderen Stück mit dieser Problematik, z.B. der D-Dur-Fuge aus dem WTK, würde ich mich vielleicht ganz anders entscheiden).
Eine Lösung zu Problem (1) bestünde darin, nicht nur die 16tel zu 32tel zu verschärfen, sondern auch die 32tel weiter in Richtung 64tel zu schärfen. Damit käme aber von selbst eine stärkere Belebung in diese Einleitung, die dem von mir gewünschten schweren, gemessenen Charakter widerspräche. Somit habe ich mich letztlich dafür entschieden, weder 16tel noch 32tel zu schärfen.
Wichtig ist es auch, dass diese Konvention keinesfalls ein "muss" ist, eher das Gegenteil ist der Fall. Meines Erachtens muss man sich in jedem betreffenden Fall selbst entscheiden, welche mehrerer Punktierungsvarianten man spielen möchte. Ich habe sicher über 20 Aufnahmen angehört, und man findet, auch unter den bekanntesten Pianisten, wirklich jede erdenkliche Variante, von (a) so wie geschrieben, (b) 16tel geschärft, aber nicht 32tel, (c) 16tel und 32tel geschärft, (d) wild durcheinander. Der von uns beiden so überaus geschätzte Sokolov spielt übrigens ebenfalls immer (zumindest habe ich keine Aufnahme von ihm gehört, bei der er es anders macht) Variante (a), also ohne jede Verschärfung, man höre etwa
(2009)
oder
(2010).
Am ehesten gehen noch die Cembalisten nach der vermutlich "historisch korrekten" Variante vor, aber man darf nicht vergessen, dass auf dem Klavier andere Probleme zutage treten und deshalb auch andere Lösungen musikalisch richtig sein können.
Die Tempo-Relationen finde ich nicht so gelungen. Das ist eine subjektive Meinung von mir - das kann man auch anders sehen. Ich spiele die ganze Sinfonia mit einem gleichbleibenden Puls. Also Grave-Achtel = Andante-Achtel, Andante-Achtel = Allegro-Viertel. Das Grave wird dann deutlich schneller als bei dir, Andante und Allegro deutlich langsamer.
Auch die Tempo-Relationen waren eine bewusste Entscheidung. Hauptaugen-(bzw. Ohren)-merk ist das Gefühl einer fortwährenden Belebung über das Metrum hinaus, d.h. insbesondere für den Übergang von Andante zu Allegro, dass Allegro-Viertel schneller sein müssen als die Andante-Achtel, um eben hörbar zu machen, dass sich
sowohl die Notenwerte verkleinern,
als auch das zugrundeliegende Metrum beschleunigt. Ich sage nicht, das das gut sein muss, aber ich wollte es im Moment wirklich so haben.
Du spielst die Aria der rechten Hand sehr schön, vergisst aber meiner Meinung nach dabei ein wenig die auch vorhandene Gesangslinie der linken Hand. Die kannst du bestimmt noch viel interessanter und sanglicher spielen.
Am Ende des Andante steht ein Rezitativ, oder eine Kadenz, wie man will. Der König setzt sich auf seinen Thron. Das Anfangs-Tempo ist ab hier aufgelöst - ich spiele das sehr viel freier als du.
Das sind sehr gute Einwände; ich finde das beim Anhören auch etwas arg "rechtshändig". Für diese zweitaktige Kadenz bin ich auch noch nicht so ganz sicher...
Das Allegro in der abschließenden Fuge bedeutet ganz sicher nicht schnellstmöglichstes Tempo - es steht eher dafür, dass man eine möglichst lebhafte Artikulation wählen soll. Die fehlt mir bei deiner Aufnahme völlig - alle Sechzehntel legato und alle Achtel staccato ist wenig originell. Da fällt dir bestimmt noch mehr ein!
Im Vergleich zu vielen Aufnahmen bin ich eher im unteren Tempobereich. Marcelle Meyer über Viertel=135, auch viele andere über 130. Allerdings: bei den großen Pianisten bleibt auch da noch genug Luft für die von Dir angesprochene lebendige Artikulation. Hier ist bei mir leider die Grenze gewesen, aber ich sehe es an sich genau wie Du, dass größere Anschlagsvielfalt in diesem Teil wünschenswert wäre. Das wird sich allerdings leider nicht von heute auf morgen verwirklichen lassen, aber es ist gut, sich zumindest an den Anspruch zu erinnern.
Typisch für die französische Ouvertüre ist eigentlich, dass der Grave-Charakter am Ende nochmal erscheint. Ich könnte mir vorstellen, dass Bach den vorletzten Takt so gemeint hat. Ich spiele den deshalb wieder im halben Tempo (Viertel = Achtel) mit doppelten Punktierungen. Das Stück hat dann einen gewichtigeren Abschluss und hört nicht so unvermittelt auf wie bei dir.
Ich habe ja schon ein sehr deutliches ritardando gesetzt und ich dachte eigentlich, noch mehr wäre zu extrem. Aber ich werde das auf jeden Fall ausprobieren.
PS: Spielst du auch die ganze Partita? Mich würden deine Erfahrungen mit dem Capriccio interessieren - das fand ich nämlich sehr knifflig und ich habe recht lange gebraucht, bis ich das so spielen konnte, wie ich es mir vorstelle. Die übrigen Sätze sind eigentlich nicht so problematisch - bis auf die dreistimmige Stelle im Rondeau.
Ja, ich spiele auch die ganze Partita, aber die anderen Sätze habe ich noch längst nicht ausreichend geübt, deshalb kann ich auch noch nicht abschätzen, was für mich am Capriccio besonders knifflig sein wird (ich weiß aber schon, dass es einiges sein wird...).
Also, noch einmal ganz herzlichen Dank und viele Grüße,
pianovirus