Nun möchte ich noch schreiben, wie meine "Beziehung zu atonaler Musik" ist, bzw. ich ersetze einmal "atonal" durch "harmonisch ungewohnt und nicht sofort durchschaubar". Damit meine ich, dass man sich in der Musik so weit von der gewohnten Dur-Moll-Tonalität und klar erkennbaren I-V-I Grundkadenz entfernt, dass sie sich anfangs fremdartig anfühlt. Häufig betrifft dies auch Rhythmus, Metrum, Form und andere Parameter.
Ich könnte mir vorstellen, dass die "Umgangsprobleme" mit dieser Art von Musik auf zwei MIssverständnissen beruhen:
1. Musik [Kunst] ist da, um "schön" (im inflationär gebrauchten Sinne) zu sein - alternativ "entspannend", "wohlklingend", "romantisch" o.ä.
2. Nichtverständnis und Nicht-Wiedererkennen führt in fast allen Lebensbereichen, in denen man davon überrascht wird, zur Ablehnung. (Komisches Essen, ungewohnte Verhaltensweisen von Menschen, "hässliche" Kleidung etc.). Das Missverständnis besteht darin, dies tatsächlich als die eigene Meinung und eigenen Geschmack wahrzunehmen, bevor man überhaupt fähig ist, sich solches auf irgendeiner sinnvollen Grundlage zu bilden.
(3. Daraus folgt für mich, dass vieles Ungewohnte in meinem Leben eine Bereicherung in vielfältigem Sinne darstellt, über deren Entdeckung ich wahnsinnig dankbar bin, weil es eine erfrischende Abwechslung, Erweiterung, neue Beleuchtung darstellt!)
Und dazu genauer:
1. Über den Sinn von Kunst kann man Bibliotheken schreiben. Sicher gibt es mehr was sie tut, als "schön" zu sein. Bestimmt ist das ein sehr wichtiger Aspekt! Vor allem aber, finde ich persönlich, soll sie in irgendeinem Sinn "berühren". Das geht auf tausend verschiedene Möglichkeiten:
Ästhetisch ansprechend, überraschend, hässlich, einfältig, schockierend, neuartig, unbehaglich, zierlich. Auf Intellektueller Ebene, emotionaler, rationaler, sonstigen Ebenen... Sie kann auch berühren, weil sie gerade nicht berühren will. (Ich habe den Eindruck, in der bildenden Kunst ist man hier deutlich toleranter.)
Und so stelle ich fest: Manche Musik berührt mich aufgrund ihrer "Reinheit" und "Schönheit" und "Perfektheit", zum Beispiel ein Präludium von Bach oder eine Sonate von Mozart (obwohl ich nicht sagen will, dass dort nicht auch viel anderes drinsteckt!!). Da könnte ich für jede Musik mit etwas Überlegen Worte finden, die bei Ravel anders ausfallen als bei Chopin oder Beethoven...
Neue Musik bedient wieder andere Empfindungsfelder für mich, die durch "tonale" Musik nicht in dieser Form abgedeckt werden. Das ist wie beim Essen: Ein Leben ohne Schimmelkäse, Sushi und Weißwein ist möglich und kann sich erfüllt anfühlen. Mit diesen drei ist es aber einfach noch ein bisschen angefüllter.
Die Empfindungen können auch unangenehm oder überraschend sein, so wie auch manche Literatur nicht fürs Einschlafen gedacht ist, oder einen zu Tränen rührt.
2. Dieser Punkt hat mit dem vorherigen zu tun. Ich bin überrascht darüber, wie merkwürdig Schimmelkäse schmeckt, wenn ich ein Leberkäsbrötchen oder Schokolade gewöhnt bin. Vielleicht muss ich Schimmelkäse auch fünfmal Essen, bis ich entdecke, dass er mir schmeckt. Vielleicht wird er mir auch nie schmecken!
Aber: Ich möchte es schaffen, den Schimmelkäse zu probieren, ohne zu erwarten, dass er ein Leberkäsbrötchen 2.0 sein muss. Natürlich wird mein Kopf das vergleichen - "schmeckt weniger saftig, weniger nach fleisch, etwas schärfer, intensiver, ...", denn ohne Vergleichsgrundlage ist in unserem Kopf alles gleichgültig und beliebig.
Für mich ist Neue Musik oft - und das mag manchen wirklich überraschen - eine Entspannung für Kopf, Geist und Ohren. Und zwar dann, wenn ich sie live im Konzert erlebe und mich in Ruhe und mit Zeit darauf einlasse. Sie ist deshalb eine Entspannung, weil sie ungewohnt und unerwartet ist, keine eingefahrenen Wege beschreitet, und mir deshalb ein neuartiges, unbeeinflussteres Hören und ein unvorhersehbares Erlebnis ermöglicht. Ich kann mit frischen Ohren zuhören, so wie jemand, der gerade erst die klassische Musik entdeckt. Aber mit dem luxuriös hörgebildeten Kopf, der trotzdem fähig ist, das erlebte ein bisschen einzuordnen. Ich bin manchmal angestrengt von den ständigen Kadenzen, Perioden, Themenverarbeitungen, Akkorden... hier finde ich etwas anderes!
Ganz genauso geht es mir beim aktiven Musizieren: Die Neue Musik ist gefühlt weniger vorbelastet, weil sie sich so stark in verschiedene Richtungen aufspaltet, dass ich mehr Interpretationsfreiheit verspüre als bei Mozart oder Beethoven, den jeder Musiker tausendfach im Ohr und dazu mindestens eine vorgefertigte Meinung hat.
Ergänzend: Genau wie in jeder anderen Lebenslage gibt es für mein Empfinden qualitativ bessere und schlechtere Musik, Gelungeneres und weniger Gelungenes, Stimmiges und weniger Stimmiges. Das ist aber unabhängig von der Stilrichtung und zudem nur teilweise objektiv.
Und weiterhin gibt es, unabhängig von der Qualität, manches, was mir besser "gefällt" als anderes. Das ist persönlicher Geschmack. Ich mag zum Beispiel keine Austern, egal, wie frisch und teuer sie sind... dafür kann ich mich für die billigste Schokolade begeistern...