agogik - zufall, willkür, objektiv messbar?

  • Ersteller des Themas adatschio
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Interessanter Faden.

Ich habe offenbar nicht dieses "Bartok-Gen" :(. Mehr aber als die Frage, ob es Menschen mit solchen Fähigkeiten gibt, interessieren mich praktische Ratschläge, wie man dem Ideal-Zeitempfinden näher kommen kann.

Ein wirklich absolutes Gehör hat man ja wohl oder hat man eben nicht. Aber in gewissem Maße kann man sein Gehör doch trainieren und z.B. bei größeren Intervallen erkennen, welcher Ton dem Kammerton am nächsten kommt. Anhand der eigenen Stimmlage kann man mit Nachdenken sogar sehr nahe herankommen.

Was also kann man aber tun, um sein Zeitgefühl zu trainieren?

Wie macht Ihr Profis das in der Konzert-, Prüfungs-, Wettbewerbssituation, wenn -möglicherweise :confused:- auch bei Euch das Herz etwas schneller schlägt?

Wenn ich ausnahmsweise mit Metronom übe (z.B. rhythmische Übungen), stelle ich fest, daß ich bei aufwärts führenden Melodieverläufen gewissermaßen bremsen muß, abwärts hingegen "hinterher renne". Nachdem ich bei Seymour Bernstein gelesen habe, daß das den meisten Menschen so geht, bin ich immerhin so mutig, mich hier zu dieser Normalität zu bekennen. Ähnlich ist es bei crescendo/decrescendo.

Ein weiteres Puls-Problem ist die "gekrümmte" Zeitwahrnehmung wegen technischer Unsicherheiten an schwierigen Stellen oder Übergängen von Übeabschnitten. Na klar, da hilft Üben bis zur technischen Beherrschung oder im zweiten Falle, die Abschnitte nicht immer an den gleichen Stellen zu trennen. Aber es kann passieren, daß man sich unversehens an eine verzerrte Zeitkurve gewöhnt hat und sie gar nicht mehr wahrnimmt. Mein Klavierlehrer findet immer wieder mal solche Stellen bei mir.

Habt Ihr auch diese Probleme? Wie bekommt Ihr sie in den Griff?

So, daß sollte genug Stoff sein für die Weiterführung dieses Fadens. Ich versbschiede mich in ein Kulturwochenende in Berlin mit Konzerten (Berg, Mahler im Konzerthaus am Gendarmenmarkt; Chorkonzert im Berliner Dom), Besuch der Museen auf der Insel und und und. Bin gespannt auf hoffentlich viele konstruktive Beiträge zu meinen Fragen, wenn ich am Sonntagabend nach Hause komme.

Entschuldige ubik, ich hoffe, meine Fragen sind in Deinem Sinne?

LG Klavieroma
 
Wieso entschuldigst du dich? ;) Fragen zu stellen ist immer gut.

Bei Vorspielsituationen stelle ich mir das Tempo vor. Wenn man dazu fähig ist, kann man den Inhalt der ersten zwei Takte mal im Kopf durchgehen. Wenn nicht, kann man sich das Tempo mittels der Zunge am Gaumen vorklopfen (aber leise :D). Wichtig ist, dass man den Puls irgendwie spürt.

Optimal wäre es natürlich, wenn man dazu fähig wäre, das mit dem Stück während des Spiels innerlich, gedanklich mitzugehen.

Ist eine Sache der Übung und Konzentration.
 
Was also kann man aber tun, um sein Zeitgefühl zu trainieren?

Wie macht Ihr Profis das in der Konzert-, Prüfungs-, Wettbewerbssituation, wenn -möglicherweise :confused:- auch bei Euch das Herz etwas schneller schlägt?

Ich kann dazu nur sagen, was ich mache und was ich meinen Studis empfehle:

1. Reserven sicherstellen:
- schwierige Stellen schneller und lauter als nötig können
- selbstredend schwierige Stellen sehr oft geübt haben

2. Überprüfung der Reserven
tja, eiskalt mit Metronom (das Ding ist hilfreicher, ale sein schlechter Ruf Glauben machen möchte!)

3. Konzentration und inneres Hören
natürlich muss man sich das Stück Ton für Ton, Klang für Klang, Melodie für Melodie vorstellen können, und das völlig unabhängig von irgendwelchen manuellen Gegebenheiten - wer vorspielt, muss den dafür nötigen technischen Arbeitsteil hinter sich lassen können (ausblenden)

Wie schon öfter gesagt: es geht um die Töne, die Klänge - es geht nicht um motorische Hürden - - - jedenfalls, wenn man öffentlich spielen soll. Musik machen bedeutet, alles Nebensächliche wegblenden können. Tempo und Klang sind natürlich nicht nebensächlich, also sind die mit dabei.

Eigentlich eine recht natürliche Angelegenheit: wenn wir irgendwas mit anderen Instrumenten hören, wissen wir möglicherweise gar nicht, was gerade schwierig, was gerade leicht ist - und es spielt doch auch keine Rolle, während wir der Musik zuhören!
 
Auf die Frage, warum er ein Stück diesesmal schneller gespielt habe als ein anderes Mal, soll Horowitz geantwortet haben "heute schlug mein Puls schneller".

Aber davon abgesehen vermittelt Tempo auch eine Atmosphäre, ist also durchaus wichtig. Der Frager hat wohlmöglich nicht mal selbst nachgemessen sondern einfach gespürt, daß es dieses Mal schneller war, weil es anders klang(1). Ich glaube sogar, daß das viele können, auch wenn sie es erstens nicht wissen und zweitens nicht darauf kommen, daß etwas deswegen anders klingt, weil es schneller oder langsamer ist.

Noch ein Beispiel für Pulstreue: Rennradfahrer trainieren nicht nur auf Kraft und Ausdauer sondern auch auf Trittfrequenz, also, wie oft sie die Pedale pro Minute treten. Untrainierte bzw. "Ahnungslose" treten interessanterweise meistens mit einer Frequenz um 72 pro Minute, und zwar ziemlich akkurat (gerade aus, flache Strecke, moderates Trainingstempo). Trainierte dagegen pendeln sich zwischen 90 und 100 ein, wobei das eben die persönliche Anpassung an die eigene Leistung ist, daher nicht mehr einheitlich. Jeder einzelne bleibt aber dann bei seiner Trittfrequenz. Der Mensch hat also neurologisch gesehen zwar keine Möglichkeit, eine Zeitspanne akkurat zu bestimmen, aber Frequenzen (das sind Tempi auch, nämlich die Anschlag-/ oder Metrumfrequenz) kann er nicht nur relativ sondern auch absolut erkennen (das kann man nicht mit Farben / Lichtfrequenzen vergleichen, denn erstens haben wir dafür glaube ich einen Sinn und zweitens erkennen wir Farben meistens trotzdem nur relativ zur Umgebung).

Und jetzt zurück zur Ausgangsfrage: Ja, Agogik kann man messen, sie ist objektiv, aber nur nach Gefühl, nicht nach technischen Apparaturen. Vielleicht ist es am einfachsten, sich erstmal mit der Agogik eines Instrumentes zu beschäftigen, das man ziemlich gut beherrscht: Die Stimme - und zwar nicht beim Singen sondern beim Sprechen, am besten beim Erzählen oder Vorlesen. Ich kann und will es nicht beweisen, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß Agogik in der Musik nach sehr ähnlichen Regeln eingesetzt wird; jetzt müßte man nur noch die Regeln kennen, die man automatisch beim Erzählen befolgt...

Und das bringt mich auf die Frage, was Religion und Musik gemeinsam haben: Man kann praktisch alles in Zweifel ziehen aber nichts widerlegen ;)

(1) Es kann natürlich auch sein, daß Horowitz das selbe Tempo gespielt hat, wie das Mal davor, aber den Fragesteller nicht in Verlegenheit bringen wollte...
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Wenn ich ausnahmsweise mit Metronom übe (z.B. rhythmische Übungen), stelle ich fest, daß ich bei aufwärts führenden Melodieverläufen gewissermaßen bremsen muß, abwärts hingegen "hinterher renne". Nachdem ich bei Seymour Bernstein gelesen habe, daß das den meisten Menschen so geht, bin ich immerhin so mutig, mich hier zu dieser Normalität zu bekennen. Ähnlich ist es bei crescendo/decrescendo.


Hallo Klavieroma,

wie du ja schon weißt, ist das völlig normal. Als man mal bei Anton Rubinstein sein Spiel mit einem Metronom begleitet hat (er hat's nicht gehört), stellte man fest, dass er alle acht Takte wieder mit dem Metronom zusammen war, dazwischen aber nicht. Er hat also einen Grundpuls gehabt (innerer Puls), ihn aber atmend verwendet, so ähnlich, wie Guendola den schönen Vergleich mit der Sprache benutzt hat.



Was also kann man aber tun, um sein Zeitgefühl zu trainieren?

Ein weiteres Puls-Problem ist die "gekrümmte" Zeitwahrnehmung wegen technischer Unsicherheiten an schwierigen Stellen oder Übergängen von Übeabschnitten. Na klar, da hilft Üben bis zur technischen Beherrschung oder im zweiten Falle, die Abschnitte nicht immer an den gleichen Stellen zu trennen. Aber es kann passieren, daß man sich unversehens an eine verzerrte Zeitkurve gewöhnt hat und sie gar nicht mehr wahrnimmt. Mein Klavierlehrer findet immer wieder mal solche Stellen bei mir.


Ich hoffe, es ist nicht schlimm, wenn ich deinen Post etwas auseinanderpflücke - so kann ich meine Überlegungen besser ordnen. :)

Solche Temposchwankungen können verschiedene Ursachen haben:

1. bei den "schwierigen" Stellen richtest du deine Aufmerksamkeit vor allem auf die technische Bewältigung und hörst nicht mehr, was da eigentlich musikalisch los ist. Du könntest daher immer wieder auch so üben, dass du diese Stellen auf ihr Wesentliches vereinfachst/reduzierst. Übe z.B. nur die Melodie mit ein paar Basstönen und setzte die unbedingt in einen Zusammenhang mit der vorigen Stelle bzw. mit dem ganzen Stück. So lernst du, wieder auf die wirklich wichtigen musikalischen Parameter zu hören und den Grundpuls zu finden.

2. Spiele auch das ganze Stück mal in einem sehr langsamen Tempo und versuche, alle musikalischen Gegebenheiten herauszuhören. Das fällt vielen ungeheuer schwer. Viele unterteilen das Stück in Stellen, mehr oder weniger schwierige und dann spielen sie jede Stelle in dem Tempo, in dem sie sie können - :p ! Da tut sich eine ungeheure Vielfalt an Tempi auf :D !

3. Und da kommen wir auch schon zu Punkt 3. Die Struktur des Stücks zu kennen, hilft ungemein. Außerdem kann man dann Anfänge verschiedener Teile zur Feststellung eines gemeinsamen Pulses gegenüberstellen, man kann sich eine charakteristische Stelle zur Tempobestimmung aussuchen (meistens nicht der Anfang!) ................ .
Auch mal Melodien, prägnante Rhythmen zu sprechen, während man klatscht o.ä. kann übrigens die Vorstellungskraft schulen.


Wie macht Ihr Profis das in der Konzert-, Prüfungs-, Wettbewerbssituation, wenn -möglicherweise - auch bei Euch das Herz etwas schneller schlägt?


Das ist u.a. Erfahrungssache. Erst mal tief durchatmen (Bauchatmung), das beruhigt schon mal. Dann besagte charakteristische Stelle zur Tempobestimmung vorstellen, dann mit dem dabei herausgefundenen Grundpuls sich den Anfang vorstellen. Kühlen Kopf bewahren und los geht's!


Zusammengefasst sind Tempoprobleme ein Zeichen dafür, dass irgendetwas mit dem Hören nicht stimmt. Außer, das Stück ist zu schwer :p !

Viele Grüße

chiarina
 
Hallo,

erst einmal vielen Dank für Eure Antworten!

Nachdem ich alles gelesen und durchdacht habe, kann ich wieder viele Anregungen in mein Üben einfließen lassen. Ich bin ohnehin gerade dabei, meine Übegewohnheiten zu überdenken und umzukrempeln.

Mir ist schon klar, daß die technische Beherrschung die Voraussetzung dafür ist, ein Stück auch sauber im Tempo spielen zu können. Aber zu dieser technischen Beherrschung muß man ja erst einmal kommen - und das möglichst ohne sich dabei Tempo-Fehler anzugewöhnen. Du hast ja so recht, Chiarina, daß meine Aufmerksamkeit beim Erarbeiten schwieriger Stellen vollständig auf das technische Problem gerichtet ist. Vermutlich "höre" ich dann nur, was ich spielen möchte ( vielleicht ist das ja eine Gnade, die einen die zahlreichen Fehlversuche und Mißklänge überhaupt überleben läßt :rolleyes:).

Das Metronom - ich habe es schon einmal geschafft, ein Stück damit totzuüben. Seitdem benutze ich es etwas vorsichtiger, z.B. dann, wenn ich eine Hand einzeln übe, an nicht melodieführenden Stellen, und eben zur Kontrolle.

Wenn manchmal leise Zweifel an mir nagen sollten, ob in mir ein gleichmäßiger Puls schlägt, werde ich mich an Guendolas Rennradfahrer-Vergleich aufrichten. Ich mache oft und gern Ausdauersport (völlig unverbissen und ohne Rennrad) und bin berühmt dafür, daß ich vom ersten bis zum letzten Schritt/Tritt wie ein Uhrwerk im Tempo bleibe, nicht sehr schnell aber wenn´s sein muß über Stunden. Na wenn ich das da kann, werde ich es doch beim Klavierspielen auch hinbekommen!

Liebe Grüße
Klavieroma
 
Ich frage mich manchmal - hat mit den Beiträgen in diesem Thread nichts direkt zu tun - ob Temposchwankungen nicht auch daher kommen, daß manche einfach nichts mit dem Taktmaß anfangen können. Ich kenne jemanden, der sein Instrument durchaus beherrscht und solo sehr beeindruckend spielt. Dieser Mann ist dazu in der Lage, eiskalt seinen "inneren Puls" durchzuhalten und merkt dabei kaum, daß er nach einer Minute ganz alleine spielt - insbesondere "gegen" elektronische Begleitung. Er hat mir gelegentlich erzählt, daß er tatsächlich kein Gefühl für Taktlänge hat und ihm fällt es noch schwerer, z.B. einen Zyklus von 16 Takten einzuhalten, ohne minutiös mitzuzählen. Er meistert also Rhythmus rein empirisch, ohne jedes Gefühl, allerdings, und das ist beachtlich, auch sehr komplizierte Konstrukte, an denen sich mancheiner erstmal ein paar Zähne ausbeißen müßte. Nur ein Denkanstoß...

PS: der innere Puls in Anführungszeichen ist natürlich ein anderer als der, der vorher zur Sprache kam.
 
Hm ..... interessant. Eigentlich würde ich sagen, dass, bevor man ein Gefühl für Phrasenlängen von z.B. 16 Takten hat, einen inneren Puls entwickeln muss. Jedenfalls ist das bei Schülern meistens so. Ein Gefühl für viertaktige Phrasen entwickeln die erst im Laufe der Zeit durch Improvisationen etc..

Aber bei deinem Bekannten scheint das ja anders zu sein. Vielleicht hast du ja recht - leider keine Ahnung :p !
 

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