Statt dieses einzigartige "work in progress" als Ganzes zu überfordern, empfehle ich dir, gut dokumentierte Abschnitte, Details zu betrachten. So sind z.B. alle Kompositionsskizzen samt etlichen Briefen bzgl. der "Todesverkündung" in der Walküre erhalten...
Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, mir die entsprechende Literatur zu besorgen, aber ich habe mir dennoch in den letzten Wochen einige Gedanken zu dieser tollen Szene gemacht. Ich werde mal versuchen, meine Gedanken dazu zusammenzufassen.
Es geht also um folgendes Motiv am Beginn der vierten Szene des zweiten Aktes der Walküre…
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Klindworth-Klavierauszug Seite 162)
Dem Leser erschließt sich, dass der klangliche d-Moll-Akkord, enharmonisch verwechselt nicht als solcher notiert ist, sondern statt dem f dort ein eis steht. Glücklicher Weise steht einem ja bereits der gesamte Ring zur Verfügung und man kann sich ansehen, was später aus dem Motiv noch wird. Auch in der Götterdämmerung ist es eines der zentralen Motive. So stirbt Siegfried ebenso wie sein Vater, zu diesem Motiv. In der Götterdämmerung sieht das dann aber so aus.
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Klindworth-Klavierauszug Seite 316)
Hier sind nun also vier Töne notiert und es ergibt sich der Akkord e-cis-fisis-h. Transponiert man diesen Akkord auf die Situation zu Beginn der Todesverkündung, würde sich der Akkord d-eis-a-h ergeben, das h fehlt also eigentlich.
Den Ausgangsakkord kann man also als d-eis-a-(h) annhemen. Dieser Akkord dient wiederum als Vorhalt für den Akkord d-eis-gis-(h), ein äquidistanter Akkord bestehend aus kleinen Terzen, also ein verkürzter Dominantseptnonakkord mit kleiner None (im Folgenden Dv). Ein Dv ist bekanntlich mehrdeutig und lässt diverse Weiterführungen zu. Eine Möglichkeit wäre, diesen Akkord als Dominante zur eigentlich notierten Tonart fis-Moll zu nutzen und entsprechend nach fis-Moll aufzulösen, dann wäre eigentlich alles in Butter, passiert hier aber nicht. Stattdessen gleitet das d nach cis und das h wird nun auch mitnotiert, es ergibt sich also der Akkord cis-eis-gis-h was nichts anderes ist, als der Cis-Dominantseptakkord, der hier im Kontext auch die Dominante wäre und somit nach fis-Moll aufgelöst werden könnte.
Das erstaunliche an der Sache ist, das vom Ausgangspunkt d-eis-a bis zum Zwischenergebnis cis-eis-gis-h im Grunde kein Harmoniewechsel stattgefunden hat. Der vermeintlich klangliche d-Moll-Akkord, ist also eigentlich bereits ein Cis-Dominantseptakkord mit a und der kleinen None d als Nebentöne bzw. Vorhalte, die schrittweise aufgelöst werden.
Es wird also der Cis-Dominantseptakkord als Zwischenergebnis erreicht. Würde nun nach fis-Moll aufgelöst werden, wäre das schon bis hier hin eine ziemlich interessante Sache, es geht aber noch weiter. Statt nach fis-Moll aufzulösen, wird das gesamte Motiv einfach einen Ganzton höher wiederholt und landet auf dem Dis-Dominantseptakkord.
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Klindworth-Klavierauszug Seite 162)
Auch nun wird nicht wie zu erwarten fortgesetzt, indem nach gis-Moll aufgelöst, stattdessen schließt sich das Todesklage-Motiv beginnend mit einem fis-Moll Akkord an, es erklingt nun also die Tonika, allerdings aus einem harmonisch entstellten Kontext heraus. Und auch dieses Motiv endet mit einem Dominantseptakkord, diesmal auf fis, worauf sich natürlich wieder keine Harmonie auf h anschließt.
Wagner lässt also die Septakkorde unaufgelöst stehen, das Ergebnis der harmonischen Entwicklung ist somit kein konsonanter Akkord mehr.
Es kommt aber noch schlimmer. Rein klanglich gesehen, beginnt ja das Motiv mit einem konsonanten Akkord, nämlich einem d-Moll Akkord. Im Kontext und perfekt vorbereitet durch die Überleitung zu dieser Szene wirkt dieser Akkord aber dissonant (ist er ja eigentlich auch…also irgendwie). Dieser Effekt wird durch das Crescendo (das wirkt durch die Bläser weit besser, als wenn man das am Klavier probiert) bis zum Taktende und bis zum Auflösen des ersten Vorhalts (a=>gis) verstärkt. Beim Erreichen des Cis-Dominantseptakkordes geht die Dynamik subito wieder zum Pianissimo zurück und in der Kombination dieser Effekte, wirkt der eigentlich dissonante Dominantseptakkord nun konsonant auf den Hörer.
Wagner setzt zum Schluss noch einen drauf. Am Ende der Oper kommt während des Feuerzaubers folgende Stelle.*
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Klindworth-Klavierauszug Seite 314)
Enharmonisch verwechselt haben wir zunächst dieselben Töne, nämlich d-f-a, der weitere Verlauf unterscheidet sich aber dadurch, dass nicht nach Cis7 sonders nach E-Dur aufgelöst wird, also wirklich konsonant.
Harmonisch stellt sich das aber gegenüber dem Schicksalsmotiv komplett anders dar, denn hier wird der d-Moll-Akkord wirklich im d-Moll-Kontext und somit subdominantisch verwendet und notiert. Der erzielte, klangliche Effekt ist hier ganz anders. Es ist fast so, als würde hier Wagner noch mal darauf hinweisen, dass ihm durchaus bewusst war, was er da vorhin komponiert hat und dass er da bewusst etwas gemacht hat, was völlig von der Norm abweicht.
Gehen wir zurück zum Ausgangsakkord d-eis-a-h. Wenn man die Töne anders anordnet, erhält man h-eis-a-d. Wenn man diesen Tonvorrat transpositioniert, ist der Akkord identisch mit dem Akkord f-h-dis-gis und das ist nichts anderes, als der Tristanakkord. Wie zum Beginn des Tristans wird auch hier ein D7 als Zielakkord erreicht, nur ohne chromatisches Viertonmotiv und ohne der (Doppel-)Dominantfunktion des Tristanakkords.
Für Korrekturen und Diskussionen jeglicher Art wäre ich dankbar.
Viele Grüße!
*Es gäbe noch einen einmaligen Zwischenschritt in der Motiventwicklung, wenn Siegmund Brünnhilde „zu ihnen folg‘ ich dir nicht!“ antwortet, den ich jetzt bewusst ausgelassen habe.