Wenn die Durchlässigkeit aller Gelenke, ein mittlerer Muskeltonus und eine ausbalancierte Bewegungsweise erreicht ist, dann muß man sich nicht überlegen, wie stark man "aktive Fingerartikulation" dosieren muß. Das ergibt sich dann aus dem angestrebten bzw. erzeugten Klang ganz natürlich von selbst. Dosierst Du "Fingeraktivität" bewußt, wird sie immer zu stark und zu isoliert vom Gesamtbewegungsfluß bzw. nicht sensibel genug für den angestrebten Klang sein!
Hallo pianovirus,
ich muss gestehen, dass ich es nicht einfach finde, deine Frage zu beantworten. Deswegen , so befürchte ich , kann ich dir auch keine Lösung , sondern höchstens ein paar Überlegungen anbieten.
Als ich deinen Post gelesen habe, dachte ich spontan: "na, wunderbar, wenn die Klangvorstellung schon da ist, einfach machen." Da das nun aber genau das Problem ist, habe ich auch wie hasenbein gedacht, dass irgendwelche Blockaden da sein müssen. Ich finde seine Überlegungen schon einmal sehr durchdacht und hilfreich.
Als Ergänzung von obigem Zitat habe ich gedacht, dass vielleicht das Wort "Fingerartikulation" eines der Probleme sein könnte. Könnte es sein, dass du, weil du dieses Wort in deiner Vorstellung hast, dich bei dem Versuch, die verschiedenen Artikulationen deiner Klangvorstellung aus dem Finger und vielleicht nur daraus zu realisieren, zu sehr anstrengst? Und deshalb zu sehr verkrampfst?
Wenn das sein könnte, würde ich dieses Wort erst mal aus dem Kopf/Gedächtnis verbannen. Ich weiß, dass du dir der Wichtigkeit geschmeidiger, lockerer und durchlässiger Beweglichkeit aller Gelenke und der Verbindungen von Schulter, Arm, Hand u.a. bewußt bist. Das hast du ja auch geschrieben. Aber vielleicht ist diese Durchlässigkeit eben bei sog. Fingerartikulation doch nicht vorhanden, weil du dich in hohem Maße auf die Finger konzentrierst und ihnen mit aller Kraft und Konzentration alles an Artikulationsmöglichkeiten abverlangen willst? Vielleicht hebst du auch die Finger beim staccato wie verrückt?
Wenn das stimmt, könntest du vielleicht einfache Artikulationsübungen machen, die aufbauend erst mal an der Taste ganz aus Handgelenk und Arm gespielt werden. Wenn du das locker und unangestrengt spielen kannst, kannst du immer mehr Fingeraktivität dazunehmen. Ein Beispiel dazu:
Nimm die Tonfolge cdef - defg - efga ..... mit dem jeweiligen Fingersatz 1234.
1) Spiele sie erst mal in aller Ruhe legato mit Ellipsenbewegungen des Handgelenks. Die Finger bleiben an der Taste.
2) Dann spiele die gleiche Tonfolge in der Artikulation ein Bogen, 2 staccati. "c" ist also legato, die anderen 3 Töne staccato. Falle mit dem Handgelenk von oben in den Daumen hinein und gehe dann während der nächsten 3 staccato-Töne mit dem Handgelenk aufwärts, mache dabei die Hand leicht (ich hoffe, es ist einigermaßen verständlich geschrieben). Du spielst diese Artikulation also nur mit Schwung des Handgelenks und gar nicht aus dem Finger. Die Finger nehmen nur die Schwünge des Handgelenks auf und geben sie an die Tasten weiter - sie sind also nicht schlabbrig, machen aber ihrerseits keine aktive Bewegung.
Das machst du erst mal langsam und in aller Gemütsruhe - du schaust dir alles an und fühlst vor allem, wie es sich anfühlt, überhaupt keine Spannung im Unterarm u.a. zu haben.
Später kannst du das Tempo steigern, dabei wird die Handgelenksbewegung kleiner.
3) Diese Art der Artikulation kannst du nun verändern, indem du den Bogen in die Mitte bzw. an das Ende der Tonfolge 1234 rückst. Ansonsten bleibt bis auf die Abwärtsbewegung des Handgelenks, die immer auf dem legato gespielten Ton erfolgt, alles gleich. Du kannst auch den Fingersatz verändern, z.B. 2345 2345 .... oder 1345 1345 (Töne cefg) spielen, auch die Tonfolgen abwärs zu spielen, ist wichtig - die Variationsmöglichkeiten sind sehr vielfältig. Später solltest du auch transponieren - ich würde es aber erst machen, wenn du die Bewegung bereits automatisiert hast, sonst könnten sich wieder Verkrampfungen einstellen.
4) Wenn du diese Tonfolgen dann völlig locker und entspannt spielen kannst, kannst du versuchen, die Fingerspitze ein bisschen mehr zu aktivieren. Du könntest z.B. eine Mini-Abzupfbewegung an der Taste machen - ich glaube, Rolf hat das mal "Kratzen" genannt. Der Klang wird dadurch prägnanter und klarer. Wahrscheinlich ist der Finger selbst dann auch noch ein bisschen stabiler. Dann kannst du ausprobieren, wieviel Fingeraktivität du machen kannst, ohne dabei die Gelöstheit vom Unterarm etc. zu verändern und hören, wie sich der Klang dabei verändert.
5) Vielleicht sind dann die Voraussetzungen für weitere Artikulationsexperimente sehr viel günstiger als vorher. Grundsätzlich glaube ich, dass Staccato/non legato sehr viel mit solchen Schwüngen, die allerdings im Tempo sehr klein sind, gespielt wird und die Vielfalt sehr mit dem Kontakt der Fingerkuppe und der Art, wie sie mit der Taste umgeht zu tun hat als mit mehr oder weniger großen Fingerbewegungen. Dann wird der Klang der artikulierten Töne auch nicht schwammig, so wie du es ja schon einmal erlebt hast, wenn man nur aus dem Arm spielt.
Ich weiss nicht, ob dir diese Überlegungen weiterhelfen, wenn nicht, vergiss es einfach. Gestern im Film über Glenn Gould hat übrigens eine Pianistin eine Übung vorgeführt, bei der eine Hand recht flach in 5-Fingerlage auf den Tasten liegt und die andere Hand auf jeden Finger staccato tippt. Ähnliches mache ich auch manchmal mit meinen Schülern und Feuchtwangers erste Übung beginnt ja auch ählich, ist dann aber noch viel weitreichender. Vielleicht wäre das auch was für dich.
Viel Glück und Erfolg beim Artikulieren
chiarina
P.S.: Da fällt mir noch ein, dass ein Schauspieler beim Sprechen ja auch gut artikulieren muss. Und das alles ohne riesige Mund- und Zungenbewegungen, sondern ganz natürlich.