Langsam spielen
von Stilblüte am 29.05.2011
Die essentielle Wichtigkeit des Langsamspielens wird einem im Klavierunterricht von Anfang an eingebläut: Was nicht funktioniert, üb langsamer!
Das klingt nach Geduldsprobe, Langeweile und antiquierter Allzweckwaffe.
Dabei kommt es wie immer auf die Art und Weise an. Hirnloses Langsamspielen ist natürlich wenig effektiv, obwohl vermutlich immerhin noch erfolgsversprechender als hirnloses Schnellspielen…
Tatsächlich aber ist das Üben im Zeitlupentempo für verschiedene Zwecke und in verschiedenen „Stadien des Könnens“ in einem Stück einsetzbar.
Langsam spielen, schnell denken
Langsam spielen ist langweilig, wenn man dabei das Hirn ausschaltet und Zeitung liest und das Zeitlupen-Spieltempo als müßiges Muss über sich ergehen lässt. In diesem Fall ist es auch nicht besonders effektiv.
Denn es geht nicht darum, die Finger langsamer zu Bewegen. Die Finger können die Akrobatik, die einem vorschwebt, problemlos ausführen. Wer im schnellen Tempo nicht mitkommt, ist das Hirn: Die Augen und das Gehör können die Informationen nicht schnell genug aufnehmen, verarbeiten, Resultate daraus ziehen und an die Finger zurückschicken. Die Gedanken haben die Melodie, Harmonie und Bewegungsstruktur des Stückes noch nicht verstanden. Um ihnen mehr Zeit für die Bearbeitung der Aufgabe zu lassen, verlangsamt man die Geschwindigkeit.
Man kann nicht x-beliebig viele Informationen in einer Zeitspanne aufnehmen und Rückmeldung geben. Und je langsamer man spielt, desto detailreicher kann man sich um ein Stück kümmern, denn auf weniger Töne fällt dann mehr Konzentrationspotential.
Ein Stück enthält mehr neue zu koordinierende Aspekte, je kürzer die Beschäftigung damit bisher ausgefallen ist. Melodieverlauf, Rhythmus, Fingersatz, Dynamik, Zusammenspiel und Bewegungsführung der Hände.
Aus einzelnen Tönen und Bewegungen werden nach einiger Zeit des Begreifens Tongruppen und Bewegungsabläufe, die als solche abgerufen werden können. Viele einzelne Denkschritte haben sich zu einem einzelnen zusammengefügt. Nun ist wieder mehr Konzentration frei, eine ähnliche Anzahl an Denkschritten (aus nun längeren Musikabschnitten) kann in der gleichen Zeit verarbeitet werden – man spielt automatisch schneller.
Wenn man langsam spielt, sollte man also ganz besonders darauf achten, was man gerade tut.
Denn es heißt nicht, mit der Spielgeschwindigkeit auch die Denkgeschwindigkeit herunterzuschrauben, ganz im Gegenteil! Jetzt hat man Zeit, voraus zu denken, die nächste Bewegung zu planen, innerlich zu hören, wie das Stück weitergeht, wie es klingen soll, was man dafür tun muss.
Zum Lernen des Notentextes
Um mit dem Text vertraut zu werden, sollte man langsam üben. So hat man mehr Zeit, auf Noten und Bewegung zu achten und macht weniger Fehler. Gerade am Anfang ist es wichtig, falsche Töne und Fingersätze zu vermeiden, da man sie schnell als Teil des Stückes abspeichert, wenn die Stelle noch keinen „richtigen Platzhalter“ besitzt. Wenn man später den Notentext kennt, sind Fehler weniger „nachhaltig“, da man sie auf der Grundlage des Richtigen besser abgrenzen und korrigieren kann.
Zum Erproben des Selbstverständlichen
Bei virtuoser Literatur ist man früher oder später an dem Punkt angelangt, das Stück im gewünschten Tempo spielen zu können. Möglicherweise ist man dabei aber sehr aufgeregt, hofft, nicht „rauszufliegen“, ist gehetzt und unter Spannung – obwohl man weiß, dass man es eigentlich kann. Die Unsicherheit bleibt.
Auch wenn man meint, über das Stadium des Langsamspielens hinaus zu sein, ist es doch wirksam, immer wieder dahin zurückzuehren. Zum einen erhöht das die Spielgenauigkeit und Kenntnis des Stückes. Es gibt aber noch einen anderen Effekt:
Man wähle ein moderates Tempo, das einem bequem erscheint, bei dem sich das Spielen leicht und selbstverständlich anfühlt, in dem man gleichmäßig und in der gewünschten Gestaltung spielen kann.
So spielt man das Stück oder einen Abschnitt daraus mehrfach hintereinander. Am Anfang wird man unsichere Stellen bemerken, die man korrigiert. Später bleibt nur das „Ich kann’s“ - Gefühl. Gleichmäßigkeit, Leichtigkeit, Sicherheit, Fehlerfreiheit.
Und ob man es glaubt oder nicht – dieses Gefühl überträgt sich auch auf ein schnelleres Tempo.
Es geht dabei um Gelassenheit und darum, nicht immer glauben zu müssen, man spiele noch nicht schnell genug („das müsste doch eigentlich noch etwas schneller sein...“). Das Stresst. Im absichtlich langsameren Tempo geht dieses Gefühl verloren. Und auch im schnelleren Tempo braucht man’s nicht: Man wählt ein Tempo und spielt – und das ist dann schnell genug.
Beim schnellen Spielen schleichen sich außerdem auf Dauer kleine Unsauberkeiten, Unsicherheiten, ungünstige Bewegungen und andere Störenfriede ein, die im langsamen Spielen wieder „ausgebügelt“ werden können.
Langsam spielen und es auch so meinen
Wer sich dazu entschließt, langsam zu spielen, sollte das nicht nur mit den Fingern „durchsetzen“, sondern auch im Hirn. Beobachtet man sein Gedankenstübchen, ertappt man sich vielleicht manchmal dabei, das Langsamenspielen zu zwingen, während man sich in Gedanken die ganze Zeit unterschwellig antreibt und auf glühenden Kohlen sitzt. Doch wozu die Hetze? Das wird schon noch schneller. Langsam Spielen ist ein essentieller Teil des Übens. Statt in Gedanken schon in der nächsten, schnellen Runde zu sein, sollte man lieber darauf achten, was man gerade tut, denn das ist wesentlich effektiver als die ungeduldige Unruhe. Die übt man nämlich mit und behält sie auch im später im höheren Tempo…
Wie man die Schnellspielfreude trotzdem behält
Bei allem Langsamspielen kann einem ab und zu vielleicht die Spielfreude vergehen, denn natürlich juckt es jeden Pianisten, ein Stück im gewünschten Originaltempo zu spielen. Besonders, wenn man das schon hervorbringen kann – wenn vielleicht auch noch ungenau und fehlerhaft. Um sich diesen Ansporn der Motivation dennoch nicht zu versagen, kann man einen kleinen Deal mit sich selbst machen: Für einmal schnell spielen spielt man die gleiche Passage zweimal langsam und konzentriert. So geht man sicher, sich nicht unbewusst Fehler anzutrainieren.