"Lieder, die die Welt nicht braucht" oder die Mottenkiste der Jahrunderte

J

jannis

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Sei mir bitte nicht böse, aber für mich ist das eine Nummer aus dem Zyklus "Lieder, die die Welt nicht braucht".

Bei Scharwenkas Mazurka, worauf sich dieses Zitat bezieht, habe ich auch dieses Gefuehl. Was aber waere, wenn sie von Horowitz gespielt wuerde? Ich will damit niemandem die pianistischen Faehigkeiten absprechen, aber meine eigene Erfahrung mit dem "Wiederbeleben" in Vergessenheit geratener Werke ist als Laie eher problematisch: So habe ich einmal versucht, von Horowitz eingespielte und durchaus interessant klingende Clementisonaten zu spielen. Da fand ich sie ploetzlich abschreckend oede. Was und wie macht es Horowitz nur, diese einigermaszen interessant klingen zu lassen? Es klingt jetzt auch bei ihm nicht nach ganz groszer Musik, aber eben doch nach sehr ernst zu nehmender. Bei der Betrachtung der Partitur hatte ich nur endlose gleichfoermige Begleitfiguren, nicht unbedingt "zwingend" klingende Themen vor Augen... ich fand es furchtbar.
Gut, diese Scharwenka-Polonaise gehoert vielleicht noch einmal in eine andere Kategorie, aber allgemein spielt die Interpretation doch eine grosze Rolle.
Einzig bei einer Hassesonate fand ich die Wiederbelebung meinerseits anhoerbar. Aber Scarlatti, Bach, was haben sie uns nicht alles viel Interessanteres geschenkt.
Die "Laien" sehe ich da in der Zwickmuehle: Wenn wir Bekanntes spielen, merkt man sofort unsere Maengel. Wenn wir Unbekanntes wiederbeleben wird es meist noch auch noch sehr langweilig. Aber schweigen wollen wir auch nicht.
Wahrscheinlich fehlt uns die Vorstellungskraft und Phantasie, evtl. auch die Technik, das umzusetzen, obwohl viele Werke ja keine auszerordentlichen Schwierigkeiten bieten.
@Stilbluete hat sich dahingehend, glaube ich, einmal sehr kritisch geaeuszert, dasz viele mit zu wenig Phantasie herangehen. Kleben wir alle zu sehr am Notentext, ohne zu verstehen? Sollten wir selbst komponieren, um zu verstehen? Ist vielleicht auch der Unterricht zu sehr am Reproduzieren der Noten ausgerichtet (also auch bei fortgeschrittenen Laien)? Trauen wir uns zu wenig (in der Interpretation)?
Jannis
 
Lieber jannis,

ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man solche Stücke im Konzert, zur eigenen Erbauung oder mit didaktischem Hintergrund im Unterricht hört/spielt.

Ich als Lehrerin erfreue mich z.B. an Stücken von Schülern, die nicht immer das NonplusUltra der Klavierliteratur sind. Dazu gehören Sachen von Gillock, Rowley, Heller, Kuhlau u.v.a.. Sie alle haben ihren Reiz, klingen schön und lebendig und machen Freude (wobei es gerade im Anfängerbereich echte Perlen gibt - Schumann, Tschaikowsky, Menuette von Mozart, Bach, Bartok, Kabalewsky ......-, die man dem Schüler nicht vorenthalten sollte).

Im Konzert allerdings würde es mich etwas frustrieren, Stücke von Gillock zu hören - die Erwartungen sind da anders. Mich interessieren da vor allem die unterschiedlichen Deutungen/Interpretationen der Pianisten und ich erlebe ein mir bekanntes Werk dadurch immer wieder neu.

Aber es ist auch spannend, unbekannte oder wenig bekannte Werke zu hören! Insofern finde ich die Einspielung von @Pianojayjay interessant, denn das Stück kannte ich bisher nicht. Ich möchte auch stetig meinen Horizont erweitern und dazu dienen solche Stücke auch!

Wenn ich selbst spiele, muss ich gestehen, dass ich lieber die traumhafte Welt der großen Komponisten erobere. :003: Ich fürchte, ich höre und spiele tausendmal lieber Nocturnes von Chopin als von Field (von ihm kenne ich allerdings nicht restlos alle). Ich spiele lieber Beethoven- als Clementi-Sonaten und meine Lebenszeit reicht sowieso nicht, um alles zu spielen, was ich spielen will.

Trotzdem lohnt es sich, sich immer wieder auf die Suche zu machen und offene Ohren zu behalten. Es geschieht immer wieder, dass einem Stücke gefallen, die nicht den Olymp des Klavierhimmels erklommen haben. Ich liebe z.B. - oh, oh....:004: - dieses furchtbar kitschige Stück "Weihnachtsglöckchen" aus diesem blauen Weihnachtsalbum. :004::004::004:

Genauso wie es geschieht, dass es Stücke gibt, die im Olymp von ganz oben gnädig auf uns herunter scheinen und die uns nicht gefallen (bei mir z.B. die Appassionata :003:).

Es wäre jedenfalls zu schade, immer nur die Stücke zu spielen oder zu hören, die sowieso auf allen Konzertprogrammen stehen. Ohren auf, auch wenn man bisweilen hinterher sagt "ich nehm doch lieber den Robert als die Clara". :003:

Liebe Grüße

chiarina
 
Danke @chiarina !! Unser Programm letztes Jahr lautete "Chopin und die Polen seiner Zeit". Wir haben einige Komponisten aufgeführt, die teilweise ganz in Vergessenheit geraten oder zumindest hier unbekannt sind. Die Brüder Schwarwenka gehören auch dazu. Ich habe im Anschluss übrigens die Polonaise op.42 von Xaver gespielt, ganz anders klingend. Es ging auch darum ein wenig die unterschiedlichen Charaktere der Brüder zu zeigen. Auf der einen Seite der introvertierte, sensible Philipp, auf der anderen Seite der extrovertierte Franz Xaver. Wir haben so viel Musik für das Projekt gesichtet und probiert, es hätte für drei Konzerttage gereicht....
 
Wer weiß, was man im Jahre 2200 von TEY hält!? Es gibt so einige Dinge, die ich nicht brauche, aber die Welt sehr wohl. Wer bin ich, dies zu entscheiden!? Ich kann das, aber nur für mich.

Grüße
Häretiker
 
Ich sehe es aehnlich wie @chiarina bis auf die "Appassionata" :004:, trotzdem finde ich es immer wieder erstaunlich, was eine gute Interpretation aus den Stuecken machen kann. Einerseits bin ich ein eifriger Verfechter einer aktiven Laienmusikerszene, denn meiner Meinung nach kann nur darauf die "klassische Hochkultur" wachsen. Also Laien, die spielen und sich natuerlich auch vorspielen, kleine Konzerte machen usw.. Insofern faende ich es auch unpassend, wenn "die Profis" auf uns herabsaehen, da sie schlieszlich von uns leben. Die aktiven und kompetentesten Konzertgaenger sind die Laienmusiker, wenn man von den Profikollegen absieht.
Andererseits gibt es natuerlich auch den Aspekt, dasz niemand sein Publikum quaelen sollte...Programme mit auch unbekannteren Werken sind phantasievoll, die Interpretationen aber vielleicht deswegen noch nicht. Daran musz man staendig arbeiten.
Vielleicht liegt der Schluessel auch darin, dasz Horowitz die Clementisonaten einfach ernst genommen hat und nicht als schnelle Einspielung der Werke eines "Kleinmeisters" abgetan hat. Das ist vielleicht das Wichtigste, jede Interpretationsaufgabe als Interpret ernst zu nehmen.
Jannis

PS: Kann mir jemand sagen, wie ich das "h" bei den Jahrhunderten in der Ueberschrift noch nachtraeglich einfuegen kann? Danke.
 
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Ich bin sehr dankbar, dass ich durch die Treffen bei @Marlene z.B. durch Violina Petrychenko mir völlig unbekannte Komponisten und Werke kennen gelernt habe. Das ist sehr ausdrucksstarke und wundervolle Klaviermusik, die ich im Moment des Hörens weitaus spannender finde als zum 150. Mal Meisterwerke wie Beethovens op. 111, die Goldberg-Variationen oder die g-moll Ballade von Chopin zu hören, (spielen kann ich die ja eh nicht:-)).Das mag und wird bei Profis anders sein. Mir persönlich gefällt bei Konzerten als Zuhörer immer eine Mischung aus Bekanntem und eher Unbekanntem. So habe ich mir z.B. neulich bei YT ein tolles Konzert mit Garrick Ohlsson angeschaut, wo er neben bekannten Werken von Bach und Chopin auch die 3. Sonate von Szymanowski gespielt hat. Hamelin finde ich jenseits seiner unglaublichen Virtuosität auch in der Zusammenstellung seiner Programme in dieser Beziehung auch immer toll. Wir leben einfach in einer tollen Zeit, dass man viele Konzerte auf diese Weise auf der heimischen Couch erleben kann:super:.
 
Aber es ist auch spannend, unbekannte oder wenig bekannte Werke zu hören!

Auf jeden Fall, da teile ich deine Meinung. Aber je konventioneller, d.h. vorhersehbarer so ein Werk ist, umso mehr Individualität und Fantasie muss der Interpret mitbringen, um so etwas halbwegs interessant herüberzubringen. Und da wird das Eis dann ganz dünn. Wenn Grigory Sokolov diesen erschreckend banalen Walzer als Zugabe spielt, dann hört man gern mit einem gewissen Schmunzeln zu:


View: https://www.youtube.com/watch?v=5gwfeqE84x8

Auf nur minimal schlechteren Level vorgetragen, springt einen die Trivialität des Walzers förmlich an und man schaltet gelangweilt ab. Eine "gute" Komposition erträgt da doch so einiges mehr!
 
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Auf nur minimal schlechteren Level vorgetragen, springt einen die Trivialität des Walzers förmlich an und man schaltet gelangweilt ab. Eine "gute" Komposition erträgt da doch so einiges mehr!

Das ist genau das Problem, weshalb ich z.T. unbekannte Kompositionen sehr fuerchte. Der einzige Vorteil in meinem Falle ist, dasz selbst sehr bekannte Werke auf dem "klassischen Olymp" meinem Publikum oft unbekannt sind. Dann hat man es als Laie einfacher :006:.
Auszerdem habe ich auch festgestellt, dasz manchmal etwas weniger komplexe Stuecke besser ankommen als ganz komplexe Stuecke trotz Erlaeuterung. Z.b. Chopin 3. Ballade versus Polonaise-Fantaisie. Trotzdem, so etwas wie den Griboedov-Walzer wuerde ich mich nicht zu spielen trauen. Die Gefahr eines voellig banalen Ergebnisses waere zu grosz. Auszerdem hat er sowieso nur als Zugabe in bestimmtem Zusammenhang eine Wirkung.
Ich schliesze aus der Diskussion, dasz unbekannte Werke in geringen Dosierungen gut ankommen, besonders gut vorbereitet werden muessen (sollte natuerlich immer so sein :004:) und in den richtigen Zusammenhang gestellt werden muessen.
Jannis
 
Meine frühere Lehrerin meinte mal zu solchen Stücken wie dem Griboedov-Walzer: Man muss sowas sehr viel besser spielen als es komponiert wurde.
 
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@herr_zog , so wahr! Ich durfte mal zu einem offiziellen Anlass Werke von Friedrich Nietzsche spielen. Da kam ich schon in der Vorbereitung mächtig in´s Schwitzen.
Ich wollte den Zuhörern ja etwas Schönes spielen und diese Musik...war so schlecht, daß ich mir am liebsten einen Eimer neben den Flügel gestellt hätte. Aber kannste ja nicht machen...
Ich habe mir viel Arbeit gemacht, diese Musik so spannend wie möglich zu spielen aber ich habe mich dauerfremdgeschämt...
Der gute Mann sparte auch nicht mit schwülstigen Anweisungen, wie seine großartige Musi zu spielen sei. Soooooooooooooo peinlich! Ich habe selten Schlechteres spielen müssen...Uff!!
Hat er nicht gesagt: Kunst kommt von Können. Käme sie von Wollen, hieße sie Wullst.
Also das war Wullst und Hurz in einem und noch viel schlimmer....:008:
Hurz ist ja nett:001:
 
Also kurz und knapp zusammengefasst die Erkenntnis: zweitklassige Werke brauchen erstklassige Interpreten.
 
Auf jeden Fall, da teile ich deine Meinung. Aber je konventioneller, d.h. vorhersehbarer so ein Werk ist, umso mehr Individualität und Fantasie muss der Interpret mitbringen, um so etwas halbwegs interessant herüberzubringen. Und da wird das Eis dann ganz dünn. Wenn Grigory Sokolov diesen erschreckend banalen Walzer als Zugabe spielt, dann hört man gern mit einem gewissen Schmunzeln zu:


View: https://www.youtube.com/watch?v=5gwfeqE84x8

Auf nur minimal schlechteren Level vorgetragen, springt einen die Trivialität des Walzers förmlich an und man schaltet gelangweilt ab. Eine "gute" Komposition erträgt da doch so einiges mehr!


Den Walzer habe ich mal bei @Marlene am Bösendorfer gespielt. Hier das Gegenstück zu Sokolov:


View: https://youtu.be/_QYBPlW-OCo


Was „Stücke, die die Welt nicht braucht“ angeht, so könnte man fast die neue CD von Lang Lang von oben bis unten auflisten....
 
@herr_zog , so wahr! Ich durfte mal zu einem offiziellen Anlass Werke von Friedrich Nietzsche spielen. Da kam ich schon in der Vorbereitung mächtig in´s Schwitzen.
Ich wollte den Zuhörern ja etwas Schönes spielen und diese Musik...war so schlecht, daß ich mir am liebsten einen Eimer neben den Flügel gestellt hätte. Aber kannste ja nicht machen...
Ich habe mir viel Arbeit gemacht, diese Musik so spannend wie möglich zu spielen aber ich habe mich dauerfremdgeschämt...
Der gute Mann sparte auch nicht mit schwülstigen Anweisungen, wie seine großartige Musi zu spielen sei. Soooooooooooooo peinlich! Ich habe selten Schlechteres spielen müssen...Uff!!
Hat er nicht gesagt: Kunst kommt von Können. Käme sie von Wollen, hieße sie Wullst.
Also das war Wullst und Hurz in einem und noch viel schlimmer....:008:
Hurz ist ja nett:001:

Frag mal Michael van Krücker, der hat Nitzsche eine ganze cd gewidmet!
 
Gibt es von diesem Gribbelov (oder wie der heißt) noch weitere Werke, oder ist diese Verschlimmbesserung einer Chopinwalzersequenz seine einzige Meisterleistung gewesen?

LG
Henry
 

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