diachrone Terzfolgen in einer Stimme?

M

Manha

Guest
Hallo zusammen,

In diesem Aufsatz über einstimmige Polyphonie komme ich mit folgendem Absatz (ziemlich weit unten) nicht klar:

Letztlich entsteht aus dieser einstimmigen Polyphonie der harmonisch-akkordische Zusammenhang, den wir zu hören gewohnt sind, am einfachsten wohl in der Dreiklangsdurchschreitung, ebenso aber auch in den diachronen Terzen- und Sextenfolgen, der Konstruktion von Vorhaltstönen, der Auflösung von Leittönen (wenn auch in anderen Tonhöhen), den distanzierten melodischen Linien meistens in den tiefsten Stimmen, die weitab vom musikalischen Geschehen liegen, soweit, daß Kurth von einer "Spaltung der Stimme" spricht, oder jenen Verdeutlichungen, wo der gleiche Ton auf zwei verschiedenen Saiten als Träger zwei verschiedener Stimmentwürfe benutzt wird.

Es geht mir um das fett markierte.

Gut, diachron ist das Gegenteil von synchron... aber wie muss ich mir denn eine diachrone Melodielinie vorstellen, die tatsächlich nur einstimmig notiert ist (auch wenn sie polyphon klingt)?

Bei etwas zweistimmigen würde ich jetzt ganz naiv mal denken die eine stimme läuft in Terzen (oder Sexten) hoch und die andere runter...

Oder verstehe ich hier den Begriff diachron falsch?

Ich habe jetzt mal angefangen das Buch von Kurth zu lesen in der Hoffnung ich finde da etwas mehr Hinweise zu, aber vielleicht kann ja hier auch schon jemand etwas dazu schreiben.

Viele Grüße an Alle,
Manha
 
Ist "einstimmige Polyphonie" ein Bigamist mit nur einer Ehefrau?
 
Da fällt mir Oscar Wilde ein:

"Bigamie: Eine Frau zu viel.
Monogamie: Dasselbe."
 
Alles paradox! Wie ein Flötist, der aus dem letzten Loch pfeift.
 
Bei etwas zweistimmigen würde ich jetzt ganz naiv mal denken die eine stimme läuft in Terzen (oder Sexten) hoch und die andere runter...

Hallo Manha,

ich habe mir den Satz einige Male durchgelesen. Ich glaube Du hast mit obiger Aussage den richtigen Ansatz. Die Polyohonie wird erreicht entweder durch synchronen Dreiklangdurchlauf c-e-g oder aber auch durch ein egales Spiel der zum Dreiklang gehörigen Töne. z.B. e-g-c.

Wäre im Augenblick die einzige Erklärung die ich anbieten kann. :p

Gruß
Jörg
 
Gut, diachron ist das Gegenteil von synchron... aber wie muss ich mir denn eine diachrone Melodielinie vorstellen, die tatsächlich nur einstimmig notiert ist (auch wenn sie polyphon klingt)?

Liebe Manha,

eine sehr interessante Frage stellst du da! Und ehrlich, ich weiß es auch nicht. Den Begriff diachron kannte ich bisher nicht (in meinen Büchern steht der jedenfalls nicht).

Ich habe mal nachgeschaut:

Diachronie

Synchrone und diachrone Sprachwissenschaften: Definition der unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Sprache | Suite101.de

Friedrich kann uns sicher mehr Aufschluss geben.

Wenn wir diese Definitionen auf die Cellosuiten übertragen, scheint es hier um die vergleichenden und sich entwickelnden polyphonen melodischen Linien (trotz Einstimmigkeit) zu gehen, die sich manchmal in Terzabständen u.ä. bewegen und so auch den harmonischen Kontext bilden. Das ist aber nur eine Vermutung von mir.

Was klar ist, ist, dass tatsächlich Bach'sche einstimmige Klangverläufe häufig mehrstimmig gedacht und gehört werden sollten. Ein Beispiel dafür ist z.B. auch das bekannte D-Dur-Präludium aus WKI.

Wenn man jetzt mal die Courante aus der c-moll-Suite nimmt (leider ist der Anhang blau geraten :p http://erato.uvt.nl/files/imglnks/usimg/2/26/IMSLP12165-Bach_-_Sechs_Suiten_F__r_Violoncello.pdf ), sieht man schön, wie dieser Begriff der einstimmigen Polyphonie gemeint ist:

Die Achtel des Anfangs könnten z.B. eine Stimme sein, während die nachfolgenden Sechzehntel eine andere Stimme darstellen, die mit der ersten in einen Dialog tritt. Sehr schön kann man sich auch zwei verschiedene Instrumente vorstellen, die sich munter miteinander unterhalten. Üben kann man das auch, indem man immer nur eine Stimme spielt und später jede Stimme (wenn es nur zwei sind, denn manchmal sind es auch mehr) mit einer Hand, also insgesamt zweihändig spielt.

Hier in der Courante erkennt man, dass die erste Stimme in Takt 1 bei G aufhört und die zweite mit h beginnt. Ich vermute mal, dass dies mit diachron gemeint ist (ist ja ein Terz- bzw. Dezimenabstand), zumal so durch das h als Terz von G-Dur auch die Tonart klar gemacht wird.

Aber vielleicht wissen andere mehr!

Liebe Grüße

chiarina

P.S.: Logischer ist vielleicht, dass die Anfänge der Stimmen im Terzabstand sind und das mit diachron gemeint ist.
 

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Liebe Chiarina, Lieber Jörg

ganz herzlichen Dank, das ihr euch die Mühe gemacht habt ernsthaft zu antworten - ich glaube jetzt wird es Klarer!

Bei Chiarinas zweiten link zur Diachronie steht, die Synchronie untersucht den Ist-Zustand.
Ich habe gestern noch die ersten 50 Seiten von dem Kurth-Buch, auf das sich der Autor des Aufsatzes ja auch teilweise bezieht, gelesen und ich finde es superspannend.

Er spricht davon das Melodie fortlaufende Entwicklung ist, immer Werdendes und das der Grundinhalt des Melodischen im psychologischen Sinne nicht eine Folge von Tönen ist, sondern das Moment des Überganges zwischen den Tönen - die Spannungen, die diese Übergänge in uns erzeugen.
Er spricht von geschlossen verlaufenden Bewegungspasen, von inneren Dynamiken etc.

Das klingt für mich danach, das es nach Kurths Auffassung kein Ist-Zustand (Synchronie) in einer Melodie gibt.
Ein Ist-Zustand wäre dann nach meinen Überlegungen auf die Musik übertragen höchstens eine Harmonie im Sinne von Akkord.

In Chiarinas Link steht zu Diachronie, das es die Entstehung des derzeitigen Zustandes untersucht - der Begriff Diachronie zielt also so, wie ich es jetzt auch aus Chiarinas Beispiel verstehe, einfach auf das Nacheinander, auf die Entwicklung der Melodie ab:
werden dabei kleine Intervalle benutzt (Sekunden) tritt mehr das melodische hervor, bei größeren Intervallen (eben den von mir nachgefragten Terzen) eher ein harmonischer Effekt; eben der besagte harmonisch-akkordische Zusammenhang von dem im von mir im ersten Beitrag zitierten Text die Rede ist.

Heureka, ich hoffe ich habe es verstanden :bongo:

Herzliche Grüße,
Manha

P.S. obwohl - jetzt habe ich das Ausgangszitat noch einmal gelesen - er schreibt vor den "diachronen Terzen" noch von "Dreiklangsdurchschreitungen" - ich hätte nach dem, was ich mir so zurecht gebastelt habe, vermutet, das ist fast dasselbe. Hm. Mist.

P.P.S.
Wobei - wenn ich über einen Durchgang folgende Definition lese: "Der Durchgang steht als Verbindung zwischen zwei harmonischen oder melodischen Stützpunkten auf unbetonten Taktteilen und hat dabei keine wesentliche eigene harmonische
Funktion"
dann ist vielleicht eben das Gegenteil davon mit den diachronen Terzen gemeint - das sie zeitlich verteilt (diachron...) auf betonten Taktteilen stehen und eben durch den polyphonen Eindruck, den sie dort vermitteln, eine harmonische Funktion andeuten...


Wenn jemand noch etwas dazu weiß, immer her damit :)
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
So, für diejenigen, die es interessiert - der Wissensdurst hat mich getrieben und deswegen habe ich Herrn Wagner heute per e-mail angeschrieben und einfach mal gefragt, was diachron in seinem Artikel bedeutet.

Ich habe sogar (schon) eine Antwort erhalten - damit hatte ich gar nicht gerechnet und auch an dieser Stelle ein herzliches Danke-Schön dafür, falls er mal bei Clavio reinschaut.

Seine Antwort lautete:
Diachron heißt nicht gleichzeitig sondern hintereinander erklingend. Synchron wäre gleichzeitig, also akkordisch.

Ja - so einfach kann etwas sein :D

Immerhin - wir waren auf der richtigen Spur :)
 

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