Mir ist gestern ein Buch von Schweitzer über Bach (J.S.) in die Hände gefallen. Geschrieben hat er es um die Jahrhundertwende. (19./20. natürlich). Kennt das jemand der hier Mitlesenden?
Ich habe gestern Abend noch ein paar Seiten hineingelesen, bin dann aber leider eingeschlafen. Nicht, weil es so langweilig war, im Gegenteil, sondern ich so müde. Aber jetzt meine Frage: in welcher musikwissenschaftlichen Tradition -wenn man das so sagen darf- steht denn Albert Schweitzer als Bach Analytiker?
Da ich das Buch ja noch nicht gelesen habe, mich aber darauf freue, kann ich die Frage nicht viel präziser stellen. Da sich Schweitzer auch (vor allem?) als Theologe dem Bachschen Werk annähert ist die Frage nach der musikwissenschaftlichen Tradition vielleicht schon ganz falsch?
Ich lasse mich überraschen.
Ich habe den dicken Wälzer zumindest in weiten Teilen gelesen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat es Schweitzer wohl zuerst in Französisch geschrieben um die Jahrhundertwende, und dann einige Jahre stark erweitert auf Deutsch herausgebracht.
Bin kein musikwissenschaftlicher Experte, aber ein großes Verdienst scheint zu sein, dass Schweitzer hier einen großen Fokus auf die Musik Bachs als "Klangrede" stellt, zumindest was die Choräle angeht und Stücke mit Kirchenliedertexten, in jedweder Form. Schweitzer hat einen regelrechten Katalog aufgestellt von Motiven, die Bach benutzt hat, um Seufzer oder Triumphgefühle oder andere Wort/Sinnesinhalte musikalisch auszudrücken. Das Orgelbüchlein hat er (zurecht) als "Wörterbuch" der Bachschen Klangrede bezeichnet. Den Anstoß zum Buch gab der Franzose Ch. Widor, bei dem der junge Schweitzer Orgelunterricht nahm, und welcher über diese oder jene Wendung in den Orgelbüchlein stolperte, bis ihn Schweitzer aufklärte, dass die Musik in sehr engem Zusammenhang zum Choraltext zu sehen ist und sich nur vieles in den harmonischen Wendungen und den Motiven in der Musik über den zugrunde liegenden Text erklären lässt. Das geht soweit, dass Bach, wenn es um Kreuzigung geht, z.B. Motive verwendet, die ein Kreuz quasi nachbilden, und auch mit vielen Kreuz-Vorzeichen (hat in dieser Hinsicht also ziemlich Deutsch gedacht...).
Schweitzer hat in dem Buch sehr viele Stücke unter die Lupe genommen, Kantaten, Orgelstücke, "Clavierstücke", Messen, eigentlich aus dem gesamten Bereich von Bachs Schaffen. Und es stimmt, dass er diese Stücke auch aus dem theologischen Aspekt heraus erklärt hat, eine der weiteren Keykompetenzen Schweitzers.
Die Interpretations"anweisungen" Schweitzers für die Orgel/Clavierwerke sind ganz klar ein Kind seiner Zeit, da wird z.B. mehr oder weniger konsequent in schwere Taktzeiten hineingebunden, ähnlich wie die Interpretationsanweisungen der Straube-Orgelausgaben (man kann es romantisierend nennen). Man kann Schweitzer zugute halten, dass er in den Orgelaufnahmen, die es von ihm gibt aus den 30-er und 40-er Jahren, sich auch selber ziemlich an seine eigenen ein paar Jahrzehnte zurückliegenden Interpretationsanweisungen hilt. Auf der anderen Seite ist es ein großes Verdienst, dass Schweitzer dafür sorgte, dass man bzgl. Registrierung wieder sich mehr besonnen hat auf die alten Barockorgeln und deren Klang als Ideal für die Darstellung Bachscher Orgelwerke, statt der damals in Mode gewesenen romantischen Orgeln mit davon stark abweichender Disposition und Konstruktion (und vor allem zum Schutz der barocken Orgeln aufrief, mit nachhaltigem Erfolg). Also für meinen Geschmack eine etwas inkonsequente Haltung - "romantische" Interpretation ja, aber auf "romantischen" Orgeln möglichst nein (sorry, dass ich nur was bzgl. Orgel geschrieben habe hier).
Zumindest was mich angeht, wenn ich mir ein neues Stück von Bach einverleiben will oder mit dem Chor eine Kantate o.ä. gesungen wird, lese ich mir immer durch, was Schweitzer dazu zu sagen hatte - nicht um es interpretationsmäßig nachzumachen, sondern aus Interesse. Und vieles davon ist heute auch noch genauso gültig (Stichwort "Klangrede" z.B.). Daneben lese ich noch gerne, was von Keller bzgl. Klavier- und Orgelwerken, ein paar Jahrzehnte später, zu den Stücken geschrieben wurde. Halte das Buch also für lesenswert, wenngleich nicht am Stück (ist einfach zu dick...), und eben auch mit dem gebotenen Abstand bzgl. Interpretation.