ein interessanter Gedanke!!! (das meine ich ernst)
musikphilologisch stellt sich natürlich die Frage:
welche Form/Variante des Nocturnes kann als endgültige Ausgabe letzter Hand bezeichnet werden? bzw. welchen Stellenwert soll oder kann man nachträglichen authentischen, in der Publikationshistorie allerdings nicht autorisierten Varianten beimessen?
(ein ähnliches Problem der nachträglichen Variantenvielfalt weist die Etüde op.10 Nr.3 auf)
sodann stellt sich die Frage: wenn der Komponist zum "ästhetischen Schutz" seines Werks einen "quasi Drahtverhau aus technischen Schwierigkeiten" einbaut, warum besteht er nicht darauf, dass nur die schwierigste Fassung publiziert wird? (Beethoven hatte sowas ganz explizit gemacht (in seiner frühen A-Dur Sonate), was damals aber aktuelle Gründe bzgl. der Aufführungspraxis hatte --- wenn Eigeldingers Idee richtig ist, dann befindet sich Chopin damit jedenfalls nicht in schlechter Gesellschaft)
...es gibt ja nicht nur ein Nocturne von Chopin -- weder für das gewaltige c-Moll Nocturne op.48 noch für die späten Nocturnes gibt es
ossia piu difficile Varianten... (das könnte daran liegen, dass die a priori schon so schwer sind, dass sich Laien daran nicht versuchen...) -- aber warum hat Chopin sowas nicht konsequent mit allen seinen "leichten" Klavierstücken gemacht?
Ich glaube nicht (beweisen kann ich es nicht), dass Chopin nach der Drucklegung zur Abschreckung von Hobbyspielern piu difficile Varianten erfunden hat - mir scheint eher, dass die für manche wenige Stücke vorliegenden Auszierungsvarianten einfach die Fülle der Möglichkeiten des Auszierens exemplarisch dokumentieren. Das irgendwie amüsante daran ist, dass Chopin ganz und gar nicht damit einverstanden war, wenn andere - z.B. Liszt - seine Werke in genau der Weise verzierten, wie er es selber in den zur Debatte stehenden Varianten gemacht hat (vgl. Gavoty)
Wie dem auch sei: erschwerende nachträgliche Varianten aus der Hand des Komponisten finden wir bei den ohnehin schwierigen Chopinsachen nicht - wie erstaunlich...
Hi Rolf,
ich zitiere gleich die Textkritik hier rein, und Erläuterungen. Vielleicht hilft das weiter. Dauert aber etwas, Text länger. Und ich koche Tee + rauche Zigarre. Edit: So: Hier:
Zitat:
Nocturne Es-Dur op.9,2
Zu den Quellen ( Handschriften nicht vorhanden ) :
FA : Französische Erstausgabe, Paris, M. Schlesinger, Plattennummer: M.S. 1287, erschienen im Januar 1833, basiert auf unbekannten Autographen.
FA ( LJ ) : Unterrichtsexemplar ( Aus der Sammlung von Chopins Schwester Ludwika Jedrzejewicz ) ( ChGW M / 174. ). Es enthält Korrekturen von Druckfehlern sowie Ergänzungen von Akzidentien von der Hand Chopins, ferner Fingersätze, und in Nocturne Nr. 2 einige kleine Varianten.
FA ( OM ) : Unterrichtsexemplar ( Aus der Sammlung von Chopins Schülerin O'Meara-Dubois ) ( BNP, Res. F 980, Photokopie ChGW F. 648 ) . Es enthält Korrekturen von Druckfehlern von der Hand Chopins sowie Vortrags- und Fingersatzbezeichnungen, und im Nocturne Nr. 2 einige kleine Varianten.
FA ( JS ) : Unterrichtsexemplar. ( Aus der Sammlung von Chopins Schülerin Jane Stirling, im Besitz von Frau Marthe Eduard Ganche, Lyon. Die in diesem Exemplar befindlichen authentischen Eintragungen sind in The Oxford Original Edition of Frederic Chopin, Oxford University Press, London, 1928, wiedergegeben. ) Es enthält authentische Fingersätze und einige wichtige Varianten.
DA : Deutsche Erstausgabe, Leipzig: F. Kistner; Pl.-Nr.: 995, ersch. Dez. 1832; basiert auf FA, vielleicht auf dem Autograph. Es existieren Exemplare dieser Erstausgabe mit gleicher Pl.-Nr., jedoch neu gestochen, also 2 oder mehr Ausgaben, deren Reihenfolge nicht immer festzustellen ist. Dies hat aber keinen Einfluß auf den Text, weil die Unterschiede
nur geringfügig sind ( Auslassen von Akzidentien und Bögen oder Hinzufügungen fehlender Zeichen.
Anm. Olli: Soso...nur geringfügig.. ) . Da diese Ausgaben vermutlich zu Chopins Lebzeiten erschienen sind ( vermutlich waren die frühesten Auflagen zu klein ), behandeln wir den Gesamttext aller dieser frühen Ausgaben als DA-Text.
EA : Englische Erstausgabe, London: Wessel Co, Pl.-Nr. W & Co 916 Nr 1 und 2 sowie W & Co 917 ( Nr. 3 ) , vom Verleger willkürlich
"Les murmures de la Seine" betitelt, ersch. Juni 1833 ) ; basiert auf FA , vielleicht auch auf dem Autograph.
_____
Alle diese Quellen sind miteinander verwandt, DA und EA basieren entweder auf FA oder dem Autograph oder auf den nach und nach verbesserten Korrekturexemplaren der FA. Die nicht exakt feststellbare Filiation hat keinen Einfluss auf den Haupttext, da die Unterschiede zwischen den Ausgaben geringfügig sind.
Hauptquelle: FA; verglichen mit DA und EA; mit zusätzlichem Fingersatz aus FA ( LJ ) , FA ( OM ) und FA ( JS ) sowie Bögen und Pedalbezeichnungen, welche von uns in runde Klammern gesetzt sind. Offensichtliche Fe[hler] in den einzelnen Ausgaben sowie die von Chopin selbst in FA identifizierten sind in unserem Notentext stillschweigend korrigiert worden.
Chopin notierte die Varianten zu verschiedener Zeit, je einige in versch. Exemplaren der Schüler, und sicherlich frei; als Beweis dafür kann die Verschiedenheit der dieselben Stellen betreffenden Varianten dienen. Aus FA ( LJ ) und FA ( OM ) stammen die Varianten: 1 ( undeutlich ) , 3, 8; aus FA ( JS ) : 3,5,11,13b,16b,17a. Die anderen wurden in die spätere Ausgabe von Mikuli übernommen ( in der Einzelausgabe des Nocturnes Op. 9,2 bis Fr. Kistner "mit des Authors authentischen Verzierungen" ) : 1a, 4,5,7a,9,10,11,13a,14b15,16a,17b. Einige Varianten notierte A. Franchomme (
Anm. Olli: Der Typ, der mit Chopin dieses Chamber-Music-Ding aus "Robert Le Diable" kreiert hat, Ed. Paderewski Band "Chamber Music" ) eigenhändig in die Korrektur des Nocturne, redigiert durch die Firma Breitkpf und Härtel ( Erste kritisch durchgesehene Gesamtausgabe ) : 1a, 3,5,7b,8,11.
Chopins Schüler haben
noch andere Varianten übermittelt: Lenz ( "Übersichtliche Beurteilung der Pianoforte-Kompositionen von Chopin", Neue Berliner Musikzeitung 1872 ): 1b,2,6,12 und Tellefsen ( in Kleczynski "Chopins größere Werke", Leipzig, 1898 ): 14a.
Die genaue Datierung der Varianten festzustellen ist nicht möglich. Die meisten - wenn nicht alle - wurden in die Exemplare der Schüler nach 1840 eingeschrieben, manche von ihnen wohl erst nach 1844.
___
Abk.: ChGW: Chopin-Gesellschaft Warschau; NBW: Biblioteka Narodowa - Nationalbibliothek Warschau; BNP: Bibliotheque Nationale, Departement de la Musique, Paris; BJK: Biblioteka Jagiellonska - Jagiellonische Bibliothek Krakau ( Anm. Olli: die kommt zwar hier im Teil-Zitat nicht vor, ich kenn aber eine knuffige ehemalige Kommilitonin von mir, die als Erasmus-Austauschstudentin von dort kam, zuvor an der Jagiellonska praktisch ausgebildet worden war und [...] - egal, notfalls reicht mein Informations-Arm bis Krakau :):):) ..... )
Zitat Ende
LG, Olli !!
PS 1.: Mit 2 Punkten bin ich nicht so ganz einverstanden, z.B. Punkt "Unterschiede nur geringfügig"...
PS 2.: Wenn ich nochmal das Wort "VARIANTEN" höre....