6) "Oberdämpfer-Klaviere lassen sich schlecht stimmen"
Da ist etwas Wahres dran, das muss fairerweise gesagt werden.
Viele Service-Personen beginnen das Stimmen damit, dass sie in der Mittellage die Saiten so bedämpfen, dass nur eine Saite pro Ton klingt. Dafür muss ein Filzstreifen oder ein loser bzw. als "Rechen" zusammenhängender Satz Keile zwischen die Saiten gesteckt werden. Bei Unterdämpfer-Klavieren tut man das einfach, nämlich oberhalb der Hammerköpfe. Bei Oberdämpfern dagegen muss man erst was tun, damit man das tun kann, denn der Dämpferbalken verwehrt den Zugriff auf die Saiten. Man muss also die Mechanik-Befestigungen lösen und dann, je nach Konstruktion, die Mechanik vorkippen oder mitsamt den Tasten vorziehen, um dann zwischen den Saiten die Abdämpf-Vorrichtung einzubringen. Dann muss man die Befestigung wieder (mindestens teilweise) anbringen und den Stimmvorgang beginnen. Ist das "Temperatur-Legen" beendet, muss man das ganze noch einmal machen, um das Hilfswerkzeug wieder herauszunehmen.
Dazu kommt noch, dass bei Oberdämpfer-Klavieren auch die weitere Stimm-Prozedur deutlich fummeliger ist als bei Unterdämpfer-Klavieren, weil man ständig mit gestielten Dämpfkeilen oder -klemmen durch das Dämpfergestänge hindurchfingern und blind auf die gerade gewünschten Saiten zielen muss.
Und dann gibt es des öfteren noch ein sehr störendes Ärgernis: Bei etlichen Oberdämpfer-Klavieren ist die Anordnung der Wirbellöcher schlecht optimiert, so dass der Stimmhammer auf vielen Wirbeln der höheren Oktaven gar nicht packt, weil der Dämpferbalken im Weg ist. Da muss man sich dann richtig was einfallen lassen.
Dennoch:
Mit etwas Übung und gutem Willen lässt sich das alles ohne große Mühsal bewältigen.*) Eines wird gerade aus diesem letztem Kapitel allerdings deutlich: Es gibt schon erkennbare Gründe dafür, dass Oberdämpfer-Klaviere sich derzeit überlebt haben. Mag sein, dass die wie auch immer gearteten Gegebenheiten des Marktes eine große Rolle spielen. Eine andere wichtige Rolle spielt ganz gewiss der Service. Denn unter den Serviceleistenden gibt es ganz gewiss seit Jahrzehnten viele, die die Oberdämpfer-Klaviere wegen ihrer Fummeligkeit nicht leiden können.
In diesem Punkt, muss man leider sagen, haben ausgerechnet die ansonsten hervorragenden späten Blüthner-Oberdämpfer-Mechaniken das Fass zum Überlaufen gebracht. Denn wenn man die bewegen muss, dann muss man nicht zwei Knebel umlegen, wie bei anderen Klavieren, sondern gleich sechs Schrauben lösen. Und wenn man die Mechanik dann gar herausnehmen muss, wird man auf kraftzehrende Weise gewahr, dass sie in allen wesentlichen Stabilitätsteilen aus Eisen ist und nicht aus Holz, wie andere. Zum unvermeidlichen Albtraum wird die Prozedur, wenn man diese höllisch schwere Mechanik wieder einbaut - bis man die richtigen Einsatzstellen dann irgendwann findet, hat man sich fast einen Bruch gehoben. Na ja - wenn dann alles wieder an seinem Platz ist und perfekt läuft, dann hat man immerhin die Entschädigung dafür, in Gestalt eines wunderbaren Klavieres.
Gruß
Martin
PianoCandle
... und aus Krach wird Klang
*) Edit: Der Bedeutung halber integriere ich hier ein Zitat aus einem Posting weiter unten:
Oberdämpfer Klaviere lassen sich, soweit sie in Ordnung sind genauso präzise stimmen wie jedes andere Klavier. Nicht dass jemand glaubt, man müsse beim Stimmergebnis Kompromisse eingehen, weil sie sich "schlecht stimmen" lassen. Das trifft nämlich nicht zu!